Die Honigbienen, die sich auf der Schwäbischen Alb fast ausschließlich in Baumhöhlen des Schwarzspechts einquartieren, entstammen Völkern, die irgendwann Imkern entkommen sind. Foto: /Ingo Arndt

Lange ist man davon ausgegangen, dass in unseren Wäldern keine wilden Honigbienen mehr leben. Aber es gibt sie doch. Zwei junge Biologen erforschen sie auf der Schwäbischen Alb.

Der Regen prasselt an diesem Vormittag sintflutartig auf den Wald. Das Wasser rinnt in kleinen Sturzbächen von den tief hängenden Blättern. Nach zehn Minuten Fußmarsch vom Forstweg durch das Dickicht sind Kleider und Schuhwerk triefend nass. Der Baum, den die beiden Wissenschaftler suchen, liegt tief im Wald. Kein Pfad weist den Weg, gibt Orientierung. Die Tierökologen der Uni Würzburg finden die große Buche fast blind. Zigmal waren sie in den vergangenen Jahren schon hier unterwegs, bei Gomadingen im Biosphärengebiet Schwäbische Alb. Zur Not würden sie den Standort auch mithilfe einer GPX-Markierung auf ihren digitalen Karten erreichen.

 

„Das ist er“, sagt der 34-jährige Benjamin Rutschmann, als hinter einem Gestrüpp aus jungen Trieben der mächtige Stamm auftaucht. Die Rotbuche ist geschätzt 20 Meter hoch und hat auf Brusthöhe einen Umfang von zwei Metern. Die Blicke der jungen Forscher ziehen sofort steil nach oben. „Da ist das Spechtloch“, sagt Rutschmann und zeigt auf eine dunkle Stelle am Stamm, die in elf Meter Höhe zwischen den Ästen erkennbar ist.

Patrick Kohl öffnet die Rucksäcke, um die Ausrüstung auf dem nassen Waldboden auszubreiten. Klettergurt, ein daumendickes Seil und eine Art überdimensionale Schleuder, wie sie auch Baumpfleger nutzen. Damit wird ein kleiner Wurfsack an einer dünnen Leine in die Höhe katapultiert. Fällt der Sack über einen kräftigen Ast zurück auf die Erde, kann man an der Leine das eigentliche Kletterseil befestigen und es in die Höhe ziehen. Drei Versuche, und das Seil hängt fest im Baum.

Die Nachmieter des Schwarzspechts

Für den Schwarzspecht, der in den heimischen Wäldern von allen Spechtarten die größten Baumhöhlen zimmert, interessieren sich die Biologen nur am Rande. Die Spechtwohnung ist verlassen. Was die Doktoranden interessiert, sind zeitweilige Nachmieter des Waldvogels: wild lebende Honigbienen.

Die Ergebnisse ihrer Forschungen, die kürzlich auch in einer internationalen Fachzeitschrift veröffentlicht wurden, lassen aufhorchen: „Lange ist man davon ausgegangen, dass in unseren Wäldern keine wilden Honigbienen mehr leben“, erklärt Rutschmann. Dass dies nicht der Fall ist, war in der Fachwelt zwar inzwischen bekannt. Doch die beiden Wissenschaftler wollten es genau wissen: Wie stark sind die wilden Honigbienen in unseren heimischen Wäldern verbreitet? Können sie dort überleben? Und wie gesund sind die Bienenvölker, die ohne imkerliche Unterstützung Kolonien bilden?

Klar ist: Die Honigbienen, die sich in den Wäldern auf der Schwäbischen Alb und anderswo in Deutschland fast ausschließlich in Baumhöhlen des Schwarzspechts einquartieren, entstammen allesamt Völkern, die irgendwann Imkern entkommen sind. Sicher ist auch: Die sogenannte Dunkle Honigbiene, die ursprünglich bis ins 19. Jahrhundert bei uns in Mitteleuropa weit verbreitete heimische Unterart der Honigbiene, bleibt weiterhin verschwunden. Durch systematische Einkreuzung mit anderen Bienenarten wurde sie einst verdrängt. „Seit der Einschleppung der Varroamilbe, einer invasiven Parasitenart, in den 70er Jahren ging man schließlich davon aus, dass alle wilden Honigbienenvölker in Europa ausgestorben seien“, erklärt Patrick Kohl.

In drei Waldgebieten in Süddeutschland haben er und Rutschmann in den vergangenen vier Jahren mit Erfolg nach den verwilderten Honigbienen gefahndet. Was das Biosphärengebiet Schwäbische Alb mit seinen ausgedehnten Buchenbeständen so attraktiv für die Forscher macht, ist die Tatsache, dass der Spechtexperte Luis Sikora aus Pfullingen hier bereits 300 Schwarzspechthöhlen kartiert hat. Ganz nebenbei legte Sikora damit ein wertvolles Verzeichnis potenzieller Wohnstätten für wild lebende Bienenvölker an – für die Forscher ein absoluter Glücksfall.

Rutschmann hängt direkt vor der Öffnung der Spechthöhle in elf Meter Höhe am Stamm und steckt einen Zollstock in den leeren Hohlraum. „Hier sind Wachsreste zu erkennen“, lässt er aus schwindelnder Höhe wissen. Dann ruft er seinem Kollegen am Boden „40 Zentimeter tief“ zu. Patrick Kohl macht trotz strömenden Regens eifrig Notizen.

Drei Tage lang werden die beiden im Biosphärengebiet stichprobenartig leere Spechthöhlen vermessen, die mit Bienen besetzt waren. „Die Bienen bevölkern nicht alle Spechthöhlen“, erklärt Kohl. Was sogenannte Bienenbäume auszeichnet, ist eine der zentralen Fragen für die Wissenschaftler. „Es könnte sein, dass viele Schwarzspechthöhlen für die Bienenvölker zu klein sind“, sagt der 30-jährige Bienenforscher.

40 wild lebende Völker

Dass die Konkurrenz um die wenigen geeigneten Schwarzspechthöhlen mutmaßlich groß ist, ist nicht allein der Tatsache geschuldet, dass von der Hohltaube bis zum Siebenschläfer zahlreiche im Wald lebende Tierarten als potenzielle Nachmieter für die begehrten Immobilien infrage kommen. Schwerer wiegen dürfte, dass in den wirtschaftlich intensiv genutzten Wäldern hierzulande generell ein Mangel an solchen Großhöhlen herrscht: „Bevor hier Faulhöhlen entstehen, werden die Bäume gefällt“, sagt Rutschmann.

Gleichwohl haben die Forscher allein im Untersuchungsgebiet auf der Schwäbischen Alb 40 wild lebende Honigbienenvölker entdeckt. „Unsere Studie zeigt, dass die Verwilderung viel häufiger vorkommt als bisher angenommen. Deutschlandweit ziehen jedes Frühjahr Zehntausende Schwärme von Bienenständen aus, um in Baumhöhlen oder anderen Höhlen verwilderte Kolonien zu gründen.“

Benjamin Rutschmann schätzt, dass im gesamten ländlichen Raum Süddeutschlands durchschnittlich auf einer Fläche von vier bis fünf Quadratkilometern eine Kolonie wilder Honigbienen lebt. Im Umkehrschluss würde das bedeuten, dass die verwilderten Bienenvölker im Sommer etwa fünf Prozent der gesamten Honigbienenpopulation ausmachen – eine gewaltige Menge, die schon allein wegen ihrer potenziellen Bestäubungsleistung nicht übersehen werden dürfe.

Doch auch die jährliche Sterblichkeitsrate der verwilderten Honigbienen ist extrem hoch: „Nur etwas mehr als zehn Prozent der Völker überleben bis zum nächsten Sommer“, sagt Kohl. Das sei viel zu wenig: „Wir schließen daraus, dass bewirtschaftete Wälder in Deutschland aktuell keine sich selbst erhaltenden wilden Honigbienenpopulationen beherbergen.“ Im Wesentlichen werden die Bestände demnach wohl jedes Jahr von aus Imkereien entkommenen Schwärmen ergänzt.

Dass das nicht zwangsläufig so sein muss, belegen Forschungen aus anderen Teilen der Welt: So weisen in den USA und Australien verwilderte Völker der Europäischen Honigbiene deutlich höhere Überlebensraten auf. Zudem stellten Patrick Kohl und Benjamin Rutschmann fest, dass es trotz der fehlenden imkerlichen Unterstützung wahrscheinlich nicht die Belastung mit Parasiten ist, die den wilden Honigbienen vorrangig zu schaffen macht: „Die wild lebenden Honigbienen haben im Vergleich zu Imkervölkern eine geringere Anzahl an Parasiten pro Volk“, erklärt Kohl. Festgestellt haben das die beiden Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit der Universität Hohenheim.

Brutkästen für die Honigbienen

Vieles spricht dafür, dass die Bienen in deutschen Laubwäldern wie auf der Schwäbischen Alb aufgrund der dort dominierenden windbestäubenden Baumarten schlichtweg nicht genug Nahrung in Form von Pollen und Nektar finden. Für die ausgebüxten Nutztiere wäre das eine echte Zwickmühle: Denn einerseits stellen die mitunter tief im Wald liegenden Schwarzspechthöhlen mutmaßlich mit die einzigen geeigneten Nistmöglichkeiten in der sonst ausgeräumten Landschaft dar. Andererseits liefert der Wald, wie ihn die Insekten hierzulande vorfinden, keine ausreichenden Nahrungsgrundlage: „Je tiefer die Honigbienen im Wald leben, umso weiter müssen sie fliegen, um Nahrung zu finden“, beschreibt Kohl das Dilemma.

50 bis 60 Liter groß ist der Hohlraum, den der Schwarzspecht in die Buche im Wald bei Gomadingen gezimmert hat und der über die Jahre weiter ausgefault ist. Nach 20 Minuten seilt sich Benjamin Rutschmann gekonnt ab. „Diese Höhle ist definitiv groß genug für die Bienen“, sagt er, als er wieder Waldboden unter den Füßen hat. Warum hier dennoch in diesem Jahr keine Honigbienen eingezogen sind – das kann viele Gründe haben.

Will man den wilden Honigbienen in unseren forstwirtschaftlich strukturierten Wäldern dauerhaft helfen, könnten künstliche Brutkästen an den Bäumen eine Option darstellen, sagen die Forscher. Doch der mutmaßlichen Nahrungsknappheit, die den Bienen im Wald zusetzt, ist damit nicht beizukommen: „Langfristig müsste sich in der Forstwirtschaft etwas ändern“, betont Rutschmann. „Mehr einheimische insektenbestäubte Baumarten und Sträucher im Wald könnten helfen.“ Die anspruchsvolle Honigbiene, sagt Kohl, sei eine Schlüsselart: „Wer ihr hilft, hilft auch vielen anderen Tieren.“