Eine Legende des Weltfußballs: Franz Beckenbauer Foto: dpa/Tobias Hase

Zum Tod von Franz Beckenbauer: ein deutsches Heldenepos mit bitterem Beigeschmack. Franz Beckenbauer war Mythos, Legende, Lichtgestalt und am Ende fehlbar – wie jeder Mensch. Nun ist er im Alter von 78 gestorben.

Wer schildern will, wie er war, der größte deutsche Fußballer und einer der besten weltweit, der bedient sich gern einer Begebenheit, die sich auf dem Vereinsgelände des VfB Stuttgart zutrug. Franz Beckenbauer, als Markenbotschafter in Diensten des benachbarten Automobilbauers unterwegs, steuerte seinen Benz geradewegs auf den Parkplatz vor der weiß-roten Geschäftsstelle, als sich ihm Otto Münzinger in den Weg stellte. Im Auftrag der resoluten Wirtin Helli Schmieg scheuchte der Hüter der Abstellplätze jeden vom Hof, der dem VfB-Vereinsgasthaus keinen Umsatz versprach.

Vor der Schranke sind alle gleich

Zwar räumte Beckenbauer ein, dass er am Verzehr von Spätzle mit Soß’ nicht interessiert sei, bedeutete aber, dass er beim Topsponsor des Clubs Wichtiges zu erledigen habe . . . „Nix da“, knurrte Münzinger, „das kann jeder behaupten. Und wenn Sie der Kaiser von China wären. Hier kommt keiner rein.“ Beckenbauer trollte sich und erzählte später schmunzelnd von der Abfuhr. Ohne den geringsten Vorwurf an Münzinger. „Vor der Schranke“, sagte der Kaiser augenzwinkernd und lachte, „sind eben alle gleich.“

Vielleicht war es auch das, was die Deutschen an ihrem Fußball-Monarchen so sehr schätzten: sein entspannter Umgang mit dem Mann auf der Straße. Kaiser zwar, aber immer auch nah bei den Menschen.

Natürlich darf an dieser Stelle nicht der Hinweis fehlen auf die Jugend im Münchner Stadtteil Giesing, auf das kleinbürgerliche Gepräge durch seinen Vater, den Oberpostsekretär. Und auf die körperliche Züchtigung, die dem Jugendspieler des SC 1906 München ausgerechnet ein Rüpel aus dem Team von 1860 München zuteilwerden ließ: Bis heute ergötzen sich die Zecher an bayerischen Stammtischen an dem Wortspiel: Ohne die Watsch’n vom (Gerhard) König wäre der Franz nicht Kaiser geworden. Jedenfalls schloss sich der 13-Jährige nicht – wie vorgesehen – den Löwen an, sondern dem FC Bayern München. Mit dem er 1965 in die zwei Jahre zuvor gestartete Bundesliga aufstieg.

Es ist der Beginn einer Geschichte, die sich so vielleicht nur im Kontext einer Zeit erzählen lässt, die – geprägt von den Lasten des Wiederaufbaus nach dem Krieg – das Verlangen nach etwas weckte, was die Welt am wenigsten mit den Deutschen verband. Beckenbauers leichtfüßige Art, den scheinbar lässigen Umgang mit dem Ball zu pflegen, passte jedenfalls nicht zum Stereotyp von den Kämpfern und Dauerläufern, die im Ruf standen, erst dann ein Spiel verloren zu geben, wenn sie wieder im Mannschaftsbus sitzen. Und als brauche es dafür die Bestätigung, biss sich die deutsche Elf 1966 durch bis ins WM-Finale im Londoner Wembley-Stadion. In dem erst ein umstrittenes Tor in der Verlängerung das Spiel zugunsten der Engländer wendete (4:2). Und sich Uwe Seeler mit den Seinen nach Spielschluss total erschöpft und gramgebeugt vom Rasen schleppte.

Pirouetten im Mittelfeld

Der WM-Novize Franz Beckenbauer drehte damals seine Pirouetten noch im Mittelfeld, auch bei der Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko musste er Karl-Heinz Schnellinger den Vortritt lassen auf der Position, die er später auf völlig neue Art interpretierte, man könnte auch sagen: neu erfand. Als Libero steuerte Beckenbauer das Spiel mit einem bis dahin unerreichten Feingespür für Raum und Zeit. Anstatt sich wie seine Vorgänger als letzter Mann darauf zu beschränken, die größten Brände im eigenen Strafraum zu löschen, stieß er stets erhobenen Hauptes und majestätischen Schrittes im passenden Moment nach vorn. Mal, um seinen Mitspielern mit einem Schlenzer aus dem Fußgelenk den Weg zum gegnerischen Tor zu öffnen, mal, um den Gegner mit filigranen Finten selbst zu umkurven wie die Slalomstangen am Kitzbühler Ganslernhang. Dabei das Spielgerät immer so eng am Fuß, als sei es eins mit ihm. „Ich habe Fußball nie als Arbeit empfunden“, bekannte er, „von Arbeit habe ich ganz andere Vorstellungen.“ Eine Haltung, die ihm Kritiker bisweilen als Hochnäsigkeit auslegten. Aber die Nonchalance seiner öffentlichen Darbietungen war auch ein Schutzschild, hinter dem er seinen brennenden Ehrgeiz verbarg.

„Es gab nie einen Besseren im deutschen Fußball, und es wird auch in Zukunft keinen Besseren mehr geben“, schwärmte Günter Netzer, den die Geschichte selbst als eine Stütze der Goldenen Generation führt,die in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts den deutschen Fußball zu seiner bis heute schönsten Blüte trieb. Sie sicherte sich 1972 den EM-Titel, zwei Jahre später schien ihr der WM-Triumph im eigenen Land gewiss. Als die Mission nach dem 0:1 im Vorrundenspiel gegen die damalige DDR in Gefahr geriet, faltete Kapitän Beckenbauer seine Mitspieler auf die Größe einer Zündholzschachtel zusammen, dann nahm er Einfluss auf Taktik und Aufstellung von Bundestrainer Helmut Schön. „Große Spieler zeichnen sich dadurch aus, dass sie auch außerhalb des Rasens eine Mannschaft führen und Verantwortung übernehmen können“, sagte Beckenbauer, der sich seinen sportlichen Mehrwert gern auch in Privilegien auszahlen ließ. Seine Mitspieler bekämpften während der Weltmeisterschaft den Lagerkoller in der Eintönigkeit der Sportschule Malente mit Tischkicker-Turnieren, der Kapitän kletterte über den Zaun, um der Schauspielerin Heidi Brühl schöne Augen zu machen.

Sagen wir es so: Sportsfreund Beckenbauer war in der Mannschaft respektiert, gemocht wurden andere. Zum WM-Titel gegen die Niederlande (2:1) hat es trotzdem gereicht. Der Franz, der kann’s. Der Mythos begann sich zu verfestigen, als Beckenbauer mit dem FC Bayern vier deutsche Meisterschaften und Pokalsiege feierte, gekrönt vom Hattrick im Europapokal der Landesmeister (1974,1975, 1976), dem Vorgänger-Wettbewerb der heutigen Champions League. Der Stuttgarter Sport-Journalist und Buchautor Hans Blickensdörfer beschrieb seinen Freund als „spielenden Trainer“, weil er fußballerisches Können, taktisches Geschick und strategisches Denken vereinte wie wenige Größen des Weltfußballs.

Prototyp des Sport-Marketings

Und nicht nur das.

Als einer der ersten Bundesliga-Fußballer spielte er den gewinnbringenden Doppelpass mit der Werbung. Der sympathische Bursche mit dem lockigen Haar entwickelte sich zum Prototypen des deutschen Sport-Marketings. Robert Schwan, sein Manager und väterlicher Freund, zog im Hintergrund die Fäden. „Kraft in den Teller, Knorr auf den Tisch!“ Der Himmel über München hing voller Geigen. Wolken zogen erst auf, als ihn der Fiskus an seine Steuerschuld erinnerte. Beckenbauers überraschender Wechsel in die US-Profiliga (1977) zu Cosmos New York galt auch als Flucht vor dem deutschen Finanzamt.

Wie immer verband er das Gute mit dem Nützlichen. Er kickte an der Seite von Pelé und Carlos Alberto, wurde dreimal US-Meister und kam zum Schluss: „Fußballerisch kannst es vergessen.“ Aber sein Etat war saniert. 1980 kehrte er zurück. 35 Jahre alt, gereift, ein Gentleman am Ball, wie der „Kicker“ befand. Mit dem Hamburger SV wurde Beckenbauer noch einmal deutscher Meister (1982), dann häuften sich die Verletzungen, die Eigentore auch. Nach einem neuerlichen Gastspiel bei Cosmos beendete er 1983 seine Karriere als Spieler.

Seine Laufbahn als Trainer begann, als Hermann Neuberger, der Präsident des Deutschen Fußball-Bunds (DFB), flehte: „Franz, du musst helfen.“ Das war 1984. Teile der deutschen Nationalmannschaft hatten sich schon im Trainingslager am Schwarzwälder „Schlucksee“ („Bild“) mit Höchstleistungen an Theke und Pokertisch verausgabt, das Team von Jupp Derwall („Häuptling Silberlocke“) schied nach der Vorrunde der Europameisterschaft in Frankreich aus. Beckenbauer übernahm als Teamchef, initiierte den Neuaufbau und kämpfte während der WM 1986 in Mexiko mehr mit seinen Ungeschicklichkeiten als mit den Gegnern. Ersatztorhüter Uli Stein nannte ihn einen „Suppenkasper“. Ein klarer Fall von Majestätsbeleidigung. Er musste die Koffer packen. Deutschland unterlag im Finale gegen Argentinien (2:3), der Kaiser dachte an Rücktritt. Gut, dass er sich von Neuberger umstimmen ließ.

Gelungene Revanche

Vier Jahre später gelang dem Teamchef mit der DFB-Auswahl die Revanche. Die Elf bezwang im Finale das Ensemble um Superstar Diego Maradona (1:0). Die magische Nacht von Rom bleibt unvergessen: Franz Beckenbauer schlenderte mit der Medaille um den Hals im überbordenden Jubel mystisch entrückt über den Rasen. Und nach ein paar kräftigen Zügen aus der Schampus-Flasche tat er angesichts der deutschen Wiedervereinigung kund, dass mit der Verstärkung aus dem Osten mit noch größeren Taten zu rechnen sei: „Es tut mir ja leid für den Rest der Welt. Aber der deutsche Fußball wird auf Jahre hinaus unschlagbar sein.“

Große Hypothek

Das war nicht nur falsch, es war auch dumm: Die Hypothek lastete schwerer als der Watzmann auf seinem Nachfolger Berti Vogts, der ihm als Assistent, Taktikschmied und Analytiker während der WM in Italien treu zur Seite gestanden hatte. Es war ja nicht so, wie es der begabte Mime Franz der Öffentlichkeit so gern vorspielte: Er arbeitete hart für den Erfolg, tüftelte mit Vogts nächtelang die Strategie aus, um den nächsten Gegner zu bezwingen. „Geht’s raus und spielt’s Fußball“, hatte Beckenbauer in der Kabine vor dem WM-Finale gefordert. Was bis heute als mentaler Geniestreich gefeiert wird, war aber nur der Schlussakkord einer komplexen Partitur: Er hatte die Mannschaft um Jürgen Klinsmann, Lothar Matthäus, Rudi Völler und Guido Buchwald bis ins Detail vorbereitet. Das passte ins Bild.

Zeit seines Lebens überließ Franz Beckenbauer die Dinge nur ungern dem Zufall. Instinktiv nährte er jedoch das Bild vom Genie, vom Zauberer und alles vergoldenden Glückspilz, das die Öffentlichkeit von ihm malte. „Wenn er spricht, legen die Engel die Harfen beiseite“, schwärmte das Lästermaul Max Merkel. „Wenn er erklärt, der Ball ist eckig, dann glauben das alle“, bestätigte die Trainer-Ikone Otto Rehhagel. Und Berti Vogts haderte: „Wenn der Franz übers Wasser läuft, sprechen alle von Gott. Wenn ich das mache, sagen sie: Nicht mal schwimmen kann er.“

Als hätte es des Beweises bedurft: Vogts holte 1996 mit der deutschen Elf den EM-Titel, gefeiert wurde aber Franz Beckenbauer: als Trainer und Präsident beim FC Bayern, als Kunstschütze im „Aktuellen Sportstudio“, in dem er den Ball vom Weizenbierglas ins Loch der ZDF-Torwand trat, und als charmanter Menschenfischer, der die Fußball-WM 2006 nach Deutschland brachte: „Die Welt zu Gast bei Freunden.“ Ein grandioses Fest, ein Gewinn für das Land und die Krönung für den Kaiser, dem das Volk und seine Standesvertreter zu Füßen lagen, wenn er einem Fabelwesen gleich mit dem Heli einschwebte. Der Fußball hatte ihm die Türen geöffnet – zum sozialen Aufstieg und zum Doppelpass mit den Großen seiner Zeit.

Der Verdacht dämmerte

Als acht Jahre später im Zuge der Korruptionsvorwürfe gegen den Weltfußballverband (Fifa) der Verdacht dämmerte, Deutschland habe die WM nicht nur deshalb bekommen, weil Beckenbauer und seine Spießgesellen mit freundlichen Gesichtern weltweit Klinken geputzt hatten, mag es dem Multitalent anfangs ein wenig vorgekommen sein wie sein Fauxpas zu Beginn der Diskussion über den Stadionneubau seiner Bayern in Fröttmaning: halb so wild. Es werde doch wohl einen Terroristen geben, gab er gut gelaunt zum Besten, der das Olympiastadion in die Luft sprengen könne. Ein architektonisches Denkmal immerhin und Heimstatt der Sommerspiele von 1972. „Ja mei“, entschuldigte er sich, „ich red halt viel Blödsinn. Bin zu impulsiv.“ Der FC Bayern hat sein Fußballstadion, die Allianz-Arena, trotzdem bekommen. Der Sturm der Entrüstung legte sich ähnlich schnell wie die Aufregung um seinen Seitensprung während einer Weihnachtsfeier des FC Bayern – mit einer Sekretärin des selbigen. Die Dame gebar einen Sohn, und der Vater beschwichtigte: „So groß ist das Verbrechen auch wieder nicht. Der liebe Gott freut sich über jedes Kind.“ Seine Frau Sybille Weimer (früher Sekretärin beim DFB) und er trennten sich. Beckenbauer heiratete während der WM 2006 Heidi Burmester. Mit ihr lebte er zuletzt von der Öffentlichkeit zurückgezogen im Salzburger Nobelvorort Parsch. Nicht einmal sein geliebtes Golf mochte er mehr spielen.

Vom Glück verlassen

Es schien, als habe ihn das Glück im Herbst seines Lebens mit einem Mal verlassen. Stephan, sein Sohn aus erster Ehe mit Brigitte, starb 2015 an einem Gehirntumor. Franz Beckenbauer selbst musste eine Bypass-Operation über sich ergehen lassen, 2018 brauchte er eine künstliche Hüfte. Was auf die Stimmung des Vaters von fünf Kindern (dreimal geschieden) sicher nicht minder lastete, waren die nicht endenden Vorwürfe, seine weiße Weste sei nicht frei von Flecken. Das vermeintliche Ehrenamt als Präsident des WM-Organisationskomitees ließ er sich wohl mit einem Werbevertrag über 5,5 Millionen Euro dotieren. Seine geschäftlichen Beziehungen zur Russian Gas Society warfen zumindest Fragen auf. Er war Mitglied der Fifa-Exekutive, als die Weltmeisterschaften 2018 und 2022 unter kritikwürdigen Umständen an Russland und Katar vergeben wurden. Verbleib und Bestimmungszweck von 6,7 Millionen Euro, die im Zuge der WM-Vergabe 2006 an Deutschland in den Sümpfen korrupter Fifa-Funktionäre versunken waren, konnte oder wollte er nicht erklären. Diente das Geld dem Stimmenkauf in Asien? Selbst seine Sportsfreunde bei „Bild“, die ihrem Star-Kolumnisten beharrlich zur Seite sprangen, zeigten ihm am Ende die Rote Karte. Die Schweizer Bundesanwaltschaft ermittelte gegen Beckenbauer und seine Helfer wegen des Verdachts des Betrugs, der Geldwäsche und der untreuen Geschäftsbesorgung.

Der beste deutsche Pelé

Der „beste deutsche Pelé“, wie ihn der Kabarettist Dieter Hildebrand einst adelte, wird in Erinnerung bleiben als Hauptdarsteller eines schillernden Heldenepos mit bitterem Ende. Franz Beckenbauer hat unfassbar viel für den deutschen Fußball getan. Aber er hat ihm auch schwer geschadet. Sein Mythos wird überdauern, allen Blessuren zum Trotz – versehen mit einer Fußnote, wonach der zeitweilig überirdisch erscheinende Kaiser auch nur ein Mensch war. Und genauso fehlbar.