Anna Schudt befreit sich als Jule aus dem Tunnel der Trauer – indem sie läuft. Foto: ZDF/Marion von der Mehden

Schmerz, Trauer, Wut, Schuldgefühle: Im ZDF-Psychodrama „Laufen“ brilliert Anna Schudt als Frau, die die Selbsttötung ihres Lebensgefährten zu bewältigen hat – und dabei zur Läuferin wird.

Am Anfang ist er überall, wohin sich Jule auch wendet. Ein Geist, der sich nicht abschütteln lässt: Johann. Er lächelt, spielt Gitarre, singt ein Liebeslied auf Platt. Wenn sie Auto fährt, sieht sie ihn neben sich sitzen, fühlt, wie er sich an ihre Schulter schmiegt. Dabei ist er gar nicht mehr da. Denn Johann (Maximilian Brückner) hat sich das Leben genommen – und das seiner Lebensgefährtin gleich mit.

Der Schmerz über seinen Suizid raubt ihr im ersten Augenblick die Luft. „Einatmen, ausatmen!“ befiehlt ihr ihre herbeigeeilte Freundin Rike (Katharina Wackernagel). Jule gehorcht – und der Schock bricht sich schließlich in einem erschütternden Schrei Bahn. Und dann sieht man Jule, die Cellistin von Beruf ist und unter anderem in einem Quartett spielt, schon gleich in Jogginghose und Hoodie durch einen Hamburger Park hecheln. Schleppend-schwer die Schritte, das verschwitzte Gesicht von körperlicher wie seelischer Anstrengung verzerrt.

„Ich bin walking dead, ein gottverdammter Zombie“

„Laufen ist super. So schön stumpf. Man muss nicht mehr denken“, hört man Anna Schudts Jule beim Joggen aus dem Off sagen – womit sie gleichzeitig dem Publikum das Gegenteil beweist. Denn ihr innerer Monolog, der Mahlstrom ihrer Gedanken begleitet sämtliche Laufszenen. Einmal konstatiert sie ausgepowert: „Ich kann nicht mehr, ich hab’ Seitenstechen. Und mein Cello klingt nach gar nichts mehr. Genauso scheintot wie ich.“ Ein anderes Mal erkennt sie bitter: „Ich stehe morgens auf und esse und dusche. Aber ich spür nichts mehr. Ich bin walking dead, ein gottverdammter Zombie.“

Mit „Laufen“ haben der Regisseur Rainer Kaufmann und die Drehbuchautorin Silke Zertz Isabel Bogdans gleichnamigen Bewusstseinsstrom-Roman (2019) fürs ZDF in einen Fernsehfilm überführt – und dabei ein exquisites Psychodrama erschaffen, mit einer über sich selbst hinauswachsenden Anna Schudt als Hauptdarstellerin.

Schudt brilliert als Kämpferin

Dass die Schauspielerin in Kämpferinnenrollen auftrumpft, hat sie schon vielfach bewiesen: Sie war die Schauspielerin und Komikerin Gaby Köster, die in „Ein Schnupfen hätte auch gereicht“ (2017) mit den Folgen ihres Schlaganfalls ringt, die Metzgersfrau Erika Gerlach, die in „Aufbruch in die Freiheit“ (2018) gegen den Paragrafen 218 vorgeht – beide Filme brachten Schudt renommierte Preise ein, darunter sogar einen Emmy.

Ihre Jule in „Laufen“ kämpft gegen sich selbst. Gegen ihren Schmerz, ihre Trauer, ihre Schuldgefühle und auch gegen ihr Talent, sich in ihre Tragödie zu verbeißen. „Jule, du willst unglücklich sein, du pamperst deine Trauer“, wirft ihre sich aufopfernd um sie kümmernde Freundin ihr irgendwann an den Kopf – denn auch die Kräfte Rikes, die einen verständnisvollen Ehemann (Kai Schumann) und zwei kleine Kinder hat, sind nicht unendlich.

Große Schauspielkunst

In knapp neunzig Minuten leuchtet „Laufen“ den Psycho- und Gefühlskosmos einer Hinterbliebenen aus – einer Frau über vierzig, die die Selbsttötung ihres geliebten Partners zu bewältigen hat. Wie Anna Schudt diesen Kosmos ausfüllt, wie sie sich, mal nur mit einem verschatteten Blick, mal mit jeder Faser ihres Körpers, hineinwirft in die Qual der Erinnerung, in Selbstmitleid und Verzweiflung, ins Nichtbegreifen, in das Meer ihrer Schuldgefühle – das ist große Schauspielkunst. Ihre ewigen Grübeleien, ihr Trauersiechtum wechseln sich ab mit zynischen Ausbrüchen, etwa gegenüber Johanns Eltern (Gaby Dohm, Michael Abendroth), die ihr in ihrer spießigen Engstirnigkeit dessen Hinterlassenschaften nicht gönnen: „Du bist nicht seine Frau.“ Oder auch mit rotziger Wut, die sie etwa bei einer Alltagsverrichtung wie dem Öffnen eines Reißverschlusses an ihre Grenzen bringt.

„Putzen Sie ihn raus“, rät die Therapeutin

Ihre Therapeutin (Victoria Trauttmansdorff), die sie nach einem Jahr zurate zieht, weiß, wie Jule im Tunnel der Trauerarbeit langsam vorwärtskommen könnte: „Trennen Sie sich, so gut es geht, von seinen Sachen, putzen Sie ihn raus. Den Brief auch.“

Bis sie Letzteres – es sind nur zwei magere auf einen Zettel gekritzelte Sätze – schafft, wird sie viele Kilometer durch den Park gejoggt sein – und im Laufen ihr Ich, ihr Leben, und ihre Leidenschaft für Musik wiedergefunden haben. In zahlreichen Szenen probt Jule mit ihrem Streichquartett, und es ist eine Qualität des Films, wie Kaufmann und sein Kameramann Martin Faras diese auskosten. Das liegt auch an Anna Schudt, denn sie spielt das Instrument selbst. Dass sie am Ende sogar als Solistin brilliert, macht ihre Darstellerleistung in „Laufen“ endgültig preiswürdig.

Mosaik des Heilungsprozesses

Zum Kunstwerk wird der Film, der die Grausamkeit der Krankheit Depression für die zurückbleibenden Angehörigen nachfühlbar macht, auch durch seine kluge Dramaturgie. Geschildert wird der Zeitraum von etwa zwei Jahren. Kaufmann und Zertz brechen die Chronologie der Ereignisse auf, springen zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her. Die aufgrund von Johanns Depression schon kriselnde Beziehung vor der Tat gehört dazu, ebenso der Ausnahmezustand kurz nach seinem Tod, dann Jules Seelen-Befindlichkeit nach etwa einem und schließlich nach zwei Jahren. Ebenso verwischen erzählerische Rückblenden und von Erlebnissen getriggerte Erinnerungen Jules. So entsteht ein Mosaik des inneren Heilungsprozesses, der von Widersprüchen und parallelen Emotionszuständen geprägt ist.

Die Geschmeidigkeit, mit der Kaufmann die Übergänge zwischen diesen Bruchstücken bewältigt, beeindruckt. Umso mehr muss ein handwerklicher Schnitzer verwundern: Als Weihnachten und der Jahreswechsel bevorstehen und Jule im Park mal wieder laufen geht, tragen die Bäume noch Blätter.

Laufen: Montag, 24. April, 20.15 Uhr, ZDF

Regiekoryphäe und Spitzendarstellerin

Schauspielerin
Anna Schudt, 1974 in Konstanz geboren, gehört zur aktuellen Riege der besten Fernsehschauspielerinnen und hat in zahlreichen TV-Serien und Filmen mitgewirkt. Einem breiten Publikum bekannt wurde sie durch ihre Rolle als Dortmunder „Tatort“-Kommissarin Martina Bönisch an der Seite von Jörg Hartmann als Faber. 2022 stieg sie nach zehn Jahren aus der ARD-Krimireihe aus.

Regisseur
Rainer Kaufmann, 1959 in Frankfurt am Main geboren, ist ein vielfach preisgekrönter Regisseur und Drehbuchautor, sein Spektrum reicht vom kommerziell erfolgreichen Unterhaltungskino bis zu anspruchsvollen Fernsehfilmen. Zu seinen bekanntesten Arbeiten zählen „Stadtgespräch“ (1995) mit Katja Riemann, „Marias letzte Reise“ (2005) mit Monica Bleibtreu sowie „In aller Stille“ (2010) mit Nina Kunzendorf.