Finanzministerin Janet Yellen warnt vor der Zahlungsunfähigkeit. Foto: dpa/Al Drago

Der Streit über die Staatsverschuldung gerät zu einem Wettlauf gegen die Zeit: Ab 1. Juni könnte es erstmals in der Geschichte Zahlungsausfälle geben. Die Zeit für Präsident Joe Biden und Speaker Kevin McCarthy läuft ab, eine Einigung zu erzielen.

Janet Yellen steht nicht im Ruf, zu übertreiben oder Panik zu verbreiten. Die Finanzministerin der USA gilt als das, was man in Amerika „no nonsense“ nennt – eine nüchterne Technokratin, die sich in erster Linie um ihren Job kümmert und das politische Taktieren anderen überlässt. Umso lauter schrillen nach ihrem Brief an Speaker McCarthy die Alarmglocken. Darin teilt Yellen dem republikanischen Führer des US-Kongresses mit, es sei „sehr wahrscheinlich“, dass ihr Ministerium „nicht länger fähig sein wird, alle Verbindlichkeiten der Regierung zu bedienen, falls der Kongress bis Anfang Juni das Schuldenlimit nicht anhebt oder aussetzt“.

Im Juni werden die Rentenzahlungen an Millionen „Social Security“-Empfänger und Veteranen fällig, der Sold für die Angehörigen der Streitkräfte, das Gehalt von Regierungsbeschäftigten und Zinsen auf die „Treasuries“ genannten Staatsanleihen. Für all das stünden noch 57,3 Milliarden Dollar zur Verfügung. Bei Weitem nicht genug, die Verpflichtungen zu erfüllen. Bereits „am 1. Juni“, warnt Yellen, könnte die Staatskasse leer sein. Zum ersten Mal seit 1789 drohte ein Zahlungsausfall der heute weltweit größten Volkswirtschaft.

Das Undenkbare scheint möglich

Diese Aussicht setzt Kongress und Weißes Haus unter Druck, schleunigst einen Kompromiss im Ringen um die 31,4 Billionen Dollar Staatsschulden zu finden. Der Präsident kürzte deshalb eine lange geplante Asien-Pazifik-Reise ab, um mit Speaker McCarthy am Montag neuen Schwung in die festgefahrenen Gespräche der Unterhändler zu bringen. Anschließend verbreiteten beide Seiten Optimismus, ohne einen Schritt weitergekommen zu sein. „Wir haben uns auf nichts verständigt“, sagte McCarthy nach dem Gespräch. „Es wird über alles gesprochen.“ Der Präsident teilte in einer Erklärung mit, er habe klargemacht, „dass ein Zahlungsausfall nicht infrage kommt und der einzige weiterführende Weg eine überparteiliche Einigung in gegenseitigem Vertrauen ist“.

Doch genau daran mangelt es in dem polarisierten Klima Washingtons. Die weit nach rechts gerückten Republikaner glauben nicht, dass Biden ein echtes Interesse daran hat, die Staatsschulden unter Kontrolle zu bekommen. Deshalb benutzen sie die seit ihrer Einführung 1917 mehr als hundertmal ohne Diskussion erfolgte Anhebung der Schuldendecke als Druckmittel, ihre Agenda durchzusetzen. Umgekehrt besteht der Verdacht, dass es den Republikanern nicht um die Staatsverschuldung geht, die unter Donald Trump massiv angewachsen ist. Sondern um den Versuch, die Prioritäten Bidens in der Klimapolitik und im Sozialbereich zu blockieren.

Angesichts dieser Ausgangslage scheint das Undenkbare möglich. „Ich denke, die meisten Republikaner im Repräsentantenhaus wollen den Bankrott“, heißt es im internen Memo eines hohen Mitarbeiters der Demokraten im Senat. „Selbst wenn McCarthy einen Deal hinbekommt, wird er nicht die Stimmen haben, ihn zu beschließen.“ Diese Befürchtung hat mit dem mangelnden Vertrauen in der republikanischen Fraktion selbst zu tun. McCarthy benötigt die Unterstützung der Mitglieder des „Freedom Caucus“, einer Abgeordnetengruppe rund zwei Dutzend rechter Hardliner, die keinem Kompromiss mit Biden zustimmen wollen.

Sie folgen der Führung Trumps, der auf seinem hauseigenen Netzwerk forderte, die Republikaner sollten sich auf nichts einlassen, „bis sie alles bekommen haben, was sie wollen“. Das ist ein Problem für den Speaker, der im Repräsentantenhaus mit 222 zu 213 Stimmen eine knappe Mehrheit hat. Er kann es sich nicht leisten, mehr als fünf Abgeordnete zu verlieren. Danach wäre er auf Unterstützung der Demokraten angewiesen. Einer der Wortführer der Rechten, Scott Perry, zeigte McCarthy bereits die Werkzeuge, falls er versuchen sollte, den Freedom Caucus zu umgehen. „Wenn Sie die Mehrheit der anderen Partei benötigen, um etwas durchzusetzen, dann haben Sie keine Mehrheit.“

Die Demokraten denken ihrerseits nicht im Traum daran, die hart errungenen Erfolge beim Klimaschutz, in der Gesundheitspolitik, der Vergebung von Ausbildungsschulden oder auf anderen Feldern der Sozialpolitik aufzugeben. Der progressive Flügel setzt den Präsidenten unter Druck, keine Zugeständnisse zu machen. Elizabeth Warren und John Fetterman kündigten an, im Senat jeden Deal zu blockieren, der zum Beispiel verschärfte Arbeitsanforderungen für Empfänger staatlicher Unterstützung stellt. Die Führerin der linken Demokraten im Repräsentantenhaus, Pramila Jayapal, unterstützt die Forderung von mehr als einem Dutzend Senatoren, Biden solle unter Berufung auf den 14. Verfassungszusatz die Schuldenobergrenze schlicht für verfassungswidrig erklären. „Wenn wir die Wahl zwischen einem schlechten Deal und dem 14. Verfassungszusatz haben, sollten wir das ernsthaft erwägen“, meint Jayapal.

Druck der Finanzmärkte ist groß

Der Präsident hat erklärt, er denke ernsthaft über diesen Weg nach. Seine Finanzministerin hat ihre Zweifel. Yellen fürchtet, dass nach dem Erreichen der Schuldengrenze auktionierte Staatsanleihen nur gegen einen deutlichen Aufschlag an die Investoren gebracht werden können. Und erhebliche rechtliche Unsicherheit durch so gut wie sichere gerichtliche Anfechtungen entstünde. Dieses Vorgehen sei „juristisch fragwürdig“, warnt Yellen.

Was die Politik nicht schafft, könnte am Ende der Markt besorgen. Je näher der „Tag X“ rückt, desto mehr Druck wird von den Finanzmärkten kommen. Der Chef-Volkswirt bei Moody’s Analytics, Mark Zandi, sagt voraus, ohne Fortschritte bis Ende der Woche „werden wir eine Menge roter Zahlen auf den Schirmen“ sehen. Denn dann bliebe selbst bei einer Einigung nicht mehr viel Zeit, diese durch den Kongress zu manövrieren.