Vor der Präsidentenwahl: Frankreich durchlebt eine tiefe Wirtschafts- und Sinnkrise

Paris - Ein knappes Jahr vor der Präsidentenwahl: Das anhaltende Schuldendrama hat den Pessimismus der Franzosen verschlimmert. Weil eine echte Alternative fehlt, könnte Nicolas Sarkozy von der Krise sogar profitieren und seinen Platz im Elysée-Palast verteidigen.

"Mehr arbeiten, mehr verdienen." Unter diesen anspornenden Wahlspruch hat Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy im Juni 2007 seine Amtszeit gesetzt. Eine segensreiche Zeitversprach er seinen Landsleuten, eine Periode voller Dynamik und Aufbruch, voller Modernisierung und Wohlstand. Doch vier Jahre später schauen besonders jene Franzosen, die den ersten Teil der präsidialen Losung brav umgesetzt haben, verbittert in ihr Portemonnaie: Denn da ist nicht mehr, sondern weniger drin.

Auch in der Mittelschicht wird das Geld knapp

Die Schwächung der Kaufkraft zählt zu den kollektiven Grunderfahrungen in der Ära Sarkozy. Dabei sind es nicht nur jugendliche und ältere schwer vermittelbare Arbeitslose, die mangels Perspektive ihr bitteres Klagelied anstimmen. Neuerdings sitzt auch in der breiten Mittelschicht der Stachel der Enttäuschung tief. "Das Geld ist verdammt knapp, du kommst nur mit Ach und Krach über die Runden", klagt die 53-jährige Marie-France, Musiklehrerin an einem Pariser Gymnasium. Während sich das Gehalt der alleinerziehenden Mutter nur geringfügig erhöht hat, ziehen die Ausgaben für Miete und Nebenkosten, Lebensmittel und Metro, Strom und Gas enorm an.

Jean-Marc, einem Pariser Beamten, geht's relativ gut. Der 55-Jährige besitzt ein schmuckes Ferienhäuschen in der Bretagne, das er in den Ferien an Kollegen und Bekannte vermietet. In diesem Jahr hat er eine völlig neue Erfahrung gemacht. "Weil das Geld nicht mehr so locker sitzt, fangen die Leute an zu feilschen."

Zukunftsängste statt Savoir-vivre

Gern zeichnen Franzosen im Ausland das romantische Bild des lieblichen, süßen Frankreich, in dem weniger gearbeitet und früher in Rente gegangen, in dem hervorragend gegessen und gut getrunken wird. Doch neben diesem verträumten, sonnigen Land gibt es auch das andere, das kalte, schattige Frankreich, in dem die Menschen von Zukunftsängsten heimgesucht werden, in Scharen die Hilfe von Therapeuten erbitten, Psychopharmaka einwerfen und häufig den Freitod wählen.

"In Frankreich herrscht ein sehr großer Pessimismus, gleichzeitig schaut man eifersüchtig auf Deutschland", lautet der ernüchternde Befund von Alfred Grosser, dem emeritierten Pariser Politikprofessor. Er führt die allgemeine Niedergeschlagenheit vor allem auf die deprimierende Erkenntnis zurück, dass sich Leistung offenbar nicht mehr lohnt: "Es sind doch nur die Reichen, die immer reicher werden." Gleichzeitig werde anderswo im großen Stil der Rotstift angesetzt: bei Polizei und Gendarmerie, in Krankenhäusern und Schulen. "Verweigerung von Solidarität" nennt der Publizist dieses Phänomen - ein Befund, der sich haargenau mit der bitteren Anklage des Résistance-Kämpfers und KZ-Überlebenden Stéphane Hessel deckt. Sein schmales Bändchen "Empört Euch", das die Politik der sozialen Kälte tadelt und eine Renaissance der Solidarität beschwört, ist der unangefochtene Bestseller des Jahres 2011.

Frankreich zählt zu den Musterknaben

Dabei steht das Land im internationalen Vergleich so schlecht nicht da. Gegenüber Krisenländern wie Portugal, Irland, Griechenland, Spanien oder Italien zählt Frankreich zu den Musterknaben. Während die "Empörten" in Griechenland und Spanien auf die Straße gehen und ein verwahrloster Mob in Großbritannien Stadtteile in Flammen aufgehen lässt, herrscht in Paris Ruhe.

Doch bei genauerem Hinsehen fallen alarmierende Wirtschaftsprognosen ins Auge. So nahm die Arbeitslosigkeit im Juli wieder stark zu: um 1,3 Prozentpunkte auf 10,1 Prozent. Gleichzeitig ist das zarte Wachstumspflänzchen schon wieder verkümmert. Die Wirtschaft stagniert im zweiten Quartal bei null Prozent Wachstum. Während die Binnennachfrage ins Stocken gerät, wird die Außenhandelsbilanz Frankreichs immer schlechter. Hinzu kommt: Der Mittelstand, auf der anderen Rheinseite ein im Vergleich immer noch kraftvoll brummender Wachstumsmotor, spielt in der von wenigen Großkonzernen dominierten französischen Wirtschaft nur eine untergeordnete Rolle.

Franzosen sind beunruhigt

Obendrein lösten jüngst Gerüchte um ein Haar eine Katastrophenstimmung aus. Neben schnell widerlegten Prognosen, nach den USA könnte auch Frankreich die "Triple-A-Bonität" einbüßen, wurden Spekulationen laut, die Großbank Société Générale sei in eine gefährliche Schieflage geraten.

Je dramatischere Züge die Schuldenkrise in Europa annimmt, desto mehr dämmert es den Franzosen, die lange Zeit über ihre Verhältnisse gelebt haben, dass auch sie endlich den Gürtel enger schnallen müssen. Aktuellen Umfragen zufolge sind 79 Prozent der Franzosen wegen der aktuellen Finanzkrise zutiefst beunruhigt.

Als Lionel Jospin, der letzte sozialistische Regierungschef, vor zehn Jahren das Hotel Matignon verließ, waren die Staatsfinanzen noch einigermaßen geordnet. Unter Nicolas Sarkozy hingegen hat sich der Schuldenberg auf ein Rekordniveau getürmt. Kein Präsident vor ihm hat so viele Schulden gemacht wie der Gaullist. Ein dreiviertel Jahr vor der Präsidentenwahl im Mai 2012 bleibt der Regierung nichts anderes übrig, als ein unpopuläres Sparprogramm aufzulegen. Weil Steuererhöhungen politisch tödlich sind, bleibt als Alternative nur die Kürzung von Ausgaben. 85 Prozent der Franzosen befürworten dies, nur zwölf wünschen Steuererhöhungen. Vieles spricht dafür, dass Finanzminister FranÛois Baroin gezielt Steuerschlupflöcher ins Visier nimmt. Denn es gibt nicht weniger als 500 Steuernischen. Kein Wunder, dass das Einsparpotenzial beachtlich ist: Voraussichtlich können die Sparkommissare allein hier fünf bis zwölf Milliarden Euro mehr herausholen. Es handelt sich dabei um ein unübersichtliches Biotop, das nur gedeihen kann, weil sich alle möglichen Berufsstände - vom Austernzüchter bis zum Pfeifenfabrikanten - mannigfache Privilegien erkämpft haben.

"Sarkozy wird von der Krise profitieren"

Die Massenproteste im Herbst 2010 gegen die Anhebung des Rentenalters von 60 auf 62 Jahre haben im Ausland den Eindruck verfestigt, die Franzosen seien ein reformresistentes, auf den Schutz ihrer Privilegien bedachtes Völkchen. Dabei sind viele Franzosen durchaus zu schmerzhaften Einschnitten bereit - vorausgesetzt, es geht gerecht zu.

Ist die nächste Präsidentschaftswahl für den Amtsinhaber angesichts dieser ungünstigen Rahmenbedingungen also schon verloren? "Nein", glaubt Grosser. Im Gegenteil: "Nicolas Sarkozy wird sogar von der Krise profitieren." Denn auf internationalem Parkett könne er nun wieder - wie gestern beim Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Paris - seine Lieblingsrolle geben: den erprobten Krisenmanager. Auch der bekannte Publizist Daniel Vernet schätzt die Chancen Sarkozys bei der Präsidentschaftswahl hoch ein: "Weil eine echte Alternative fehlt."