Szene aus „Irrational Man“ Foto: Warner Bros./dpa

Großes Schauspielerkino: Treffsicher nimmt Woody Allen in seinem neuen Kinofilm „Irrational Man“ wohlsituierte Intellektuelle aufs Korn

Stuttgart - Menschen neigen dazu, sich in ihrer Eitelkeit zu sonnen, in ihrem Selbstmitleid zu baden und überhaupt um sich selbst zu kreisen. Niemand hat dies zugespitzter vorgeführt als Woody Allen, der New Yorker Spezialist für die alltäglichen Neurosen urbaner Intellektueller. Und obwohl er praktisch jedes Jahr einen Film macht, obwohl aus seiner Sicht längst alles gesagt sein müsste, ist ihm mit fast 80 nun noch einmal eine frische Variation des Themas gelungen.

Die saturierte Welt einer US-amerikanischen Universitätsstadt an der Küste ist die Folie, vor der Allen eine Ansammlung herrlicher Nervensägen zur Schau stellt. Dem neuen Philosophieprofessor Abe Lucas eilt ein glamouröser Ruf voraus, doch als er ankommt, ist er angetrunken, einsilbig und trägt demonstrativ eine Depression vor sich her. Das fordert den Jagdinstinkt der in ihrer Ehe vereinsamten Professorenkollegin Rita heraus, und parallel beginnt der zunächst impotente Abe mit der hübschen Studentin Jill eine platonische Beziehung.

Alle Figuren analysieren sich permanent selbst, rationalisieren jeden Aspekt ihres Lebens, ohne je zu einem Punkt oder gar zu einem echten Gefühl zu gelangen: Sie sind letztlich alle reich, gelangweilt und eigentlich schrecklich langweilig – das aber wissen nur die Zuschauer, und dieser Informationsvorsprung macht es ausgesprochen vergnüglich, ihnen zuzuschauen. Was sie da zur Schau stellen, ist auch – aber keineswegs nur – der übliche humoresk verpackte Allen’sche Pessimismus, sondern feinste Satire.

Großes Schauspielerkino

Und großes Schauspielerkino, für das dieser Regisseur ein besonderes Händchen hat. Joaquin Phoenix trägt als Abe eine unglaubliche Wampe vor sich her, ein besonders perfides Mal des wurschtigen Sich-gehen-Lassens für einen Mann, der gern über Existenzialismus, Jean-Paul Sarte und Simone de Beauvoir referiert. Und er vollzieht eine atemberaubende Wandlung vom depressiven, in sich gekehrten Säufer zum euphorisch überdrehten Lebensumarmer; zu trauen ist weder dem einen noch dem anderen. Phoenix kann über sich hinauswachsen bei solchen Gratwanderungen, bravourös hat er schon den irren Imperator Commodus verkörpert („Gladiator“, 2000), einen lupenreinen Psychopathen, wie auch den großen Johnny Cash als verlorene Seele am Abgrund („Walk The Line“, 2005).

Emma Stone knüpft als Jill da an, wo sie in Allens vorigem Film „Magic In The Moonlight“ aufgehört hat. Als Prototyp der verführerischen Vorzeige-Studentin und eifrigen Klavierschülerin, die sich dem Professor förmlich aufzwingt, redet sie ohne Punkt und Komma – mit ihrem unerträglich netten Langweiler-Freund Roy über Abe, was Roy bald in die Verzweiflung treibt, mit Abe über grundsätzliche philosophische Fragen.

Philosophie als intellektuelle Masturbation

Tatsächliche Tiefe, das merkt man schnell, erreichen die beiden freilich nie, während sie über Kant und Kierkegaard schwadronieren, denn wie alle Figuren in diesem Film verstehen auch sie nichts vom Leben in ihrer Oberflächlichkeit, die vielleicht nur ein Amerikaner so treffsicher aufs Korn nehmen kann. Professor Abe gibt seinen Studenten sogar explizit als zentrale Botschaft mit, die Philosophie sei nichts weiter als intellektuelle Masturbation und tauge nicht fürs richtige Leben. Die Konsequenz, die er daraus zieht, ist ein Wahnsinn: Im Glauben, etwas tun zu müssen, um die Welt besser zu machen, plant er ein Verbrechen, von dem er sich einredet, es werde ein perfektes sein. Eine Illusion, aber eine, die ihm zumindest jede Menge neuen Schwung verleiht.

Jills Eltern immerhin ahnen, dass Abe womöglich eine Pfeife ist, laden ihn aber trotzdem zum Dinner ein. Überhaupt ist es nicht weit her mit der Moral, über die so viel geredet wird: Jill fühlt sich Roy nicht verpflichtet, und niemand scheint an der explizit verbotenen Affäre zwischen Studentin und Professor etwas zu finden – wo man doch so schön über sie tratschen kann.

Präzise inszenierter Film

Seit seinem überraschenden Krimi „Match Point“ (2005) hat Allen keinen Film mehr so präzise inszeniert. Wie eine Voyeurin folgt die Kamera den Akteuren genüsslich auf Schritt und Tritt, um ja keine Unzulänglichkeit zu verpassen. Jedes Detail ist mit Bedacht gewählt, jede Szene dient dem großen Ganzen. Woody Allen führt wohlsituierte Bürger vor, die glauben, sich jede Narrenfreiheit nehmen zu dürfen, weil es ja genügt, sie verlogen zu verbrämen, und er amüsiert sich über scheinbar perfekte Lebensentwürfen ohne Substanz.

Allein die Pullover sind unglaublich, die Jill und Roy einander schenken in ihrer ach so ideal anmutenden Vernunftbeziehung.

In Stuttgart zu sehen im Cinema und im Atelier am Bollwerk.