Seit 42 Jahren im Parlament. Wolfgang Schäuble (CDU) Foto: dpa

Wolfgang Schäuble sitzt seit 42 Jahren im Bundestag. Im großen StN-Interview spricht er darüber, warum er Angela Merkel als Chefin erträgt und warum er mit Helmut Kohl für immer gebrochen hat.

Seit über vier Jahrzehnten prägt Wolfgang Schäuble die CDU und die  deutsche Politik –  und  will weiter mitgestalten. Der Finanzminister erklärt im  Interview, wie sich Deutschland und er selbst  gewandelt haben.
 
Herr Schäuble, Sie sind seit 1972 Abgeordneter des Bundestags. Kein anderer deutscher Politiker war länger im Parlament als Sie. Mit bloßer Pflichterfüllung ist das nicht zu erklären. Was treibt Sie an?
Ganz einfach: Das andauernde Interesse an der Art und Weise, wie wir alle miteinander leben, wirken und arbeiten, also an der Politik. Und der Antrieb, sie mitgestalten zu wollen. Das hat mich seit frühester Jugend begeistert. Ich bin immer noch an Neuem interessiert und finde es faszinierend, wie sich die Gesellschaft verändert, was zum Beispiel die Globalisierung mit uns allen macht.
Und was stellen Sie im Rückblick fest?
Ich bin 1942 geboren. Ich habe eine Erinnerung an die Nachkriegszeit, auch an die Enge dieser Zeit. Es ist atemberaubend, was sich seither getan hat. Nein, langweilig wird es mir nicht. Klar, Pflichtgefühl ist auch dabei, gerade wenn es mal wieder eine Sitzung bis morgens um fünf gibt, aber das ist beileibe nicht der alleinige Antrieb. Ich habe Freude am Gestalten.
Wenn Sie sich an die heißen Redeschlachten der 70er Jahre erinnern, an Herbert Wehner und Franz Josef Strauß – ist der parlamentarische Alltag heute nicht viel leidenschaftsloser?
Natürlich gab es in der Nachkriegszeit – bis in die 70er Jahre – einfach aufgrund der Tatsache, dass wir in einer Zeit nach zwei großen, alles zerstörenden und umwälzenden Kriegen lebten, große grundlegende Fragen, die die ganze Gesellschaft beschäftigt und gespalten haben: Westintegration, Wiederbewaffnung, Ostpolitik, Kalter Krieg. Diese großen grundlegenden Konflikte haben wir heute nicht mehr. Gott sei Dank! Und manche Debatten verlagern sich auch vom Parlament hinaus in ganz andere Formen der Kommunikation.
Muss heute mehr argumentiert werden? Alte Parlamentsdebatten waren oft erfrischend polemisch.
Zum Teil schon. Aber es gibt auch heute noch große leidenschaftliche Debatten. Etwa wenn es um Fragen der Grenzbereiche der Medizin geht. Um unser Verständnis von Selbstbestimmung und Menschenwürde. Oder um das Ringen über das Verhältnis von Männern und Frauen, um Gleichberechtigung und Rollenbilder. Aber wir alle haben die alten ideologischen Gräben verlassen.
Dazu haben Sie auch persönlich beigetragen. 1994 haben Sie mit dafür gesorgt, dass Antje Vollmer die erste grüne Vize-Bundestagspräsidentin wurde.
Das geschah aus Respekt vor dem Ergebnis demokratischer Wahlen. Natürlich habe ich mich schon damals als Unions-Fraktionschef mit der Frage beschäftigt, wer alles Grün gewählt hat und nicht uns. 1994 wurde Angela Merkel eine – sehr erfolgreiche – Bundesumweltministerin. Die Volkspartei CDU muss ständig auf neue gesellschaftliche Entwicklungen reagieren. So hat sich die Union damals der Umweltfrage geöffnet. Wie sie es dann auch in der Frage der Gleichberechtigung getan hat. Auch das erklärt, warum die Frontstellungen in Parlament und Gesellschaft abgenommen haben.
Die Zuwanderung ist so ein neues Thema. Sie waren 2006 Initiator der Islamkonferenz.
Auch daran sieht man, wie stark sich Deutschland verändert hat. Ich habe noch Erinnerungen an die Zeit, als die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Osten in unsere Städte und Dörfer kamen. Und ich weiß, wie wenig angesehen sie waren. Dann kamen mit dem ökonomischen Aufschwung die Arbeitskräfte, die wir Gastarbeiter nannten. Nach der Wiedervereinigung kam die große Welle der Asylbewerber.  . .
.  .  . und was folgte daraus für die Politik?
Aufgabe der Politik war es immer, Schritt für Schritt dafür zu sorgen, dass neue Realitäten anerkannt wurden; dass es in der Bevölkerung keine überzogen ablehnenden Reaktionen gibt. Dem diente damals der Asylkompromiss. Dem diente später auch die Islamkonferenz. Wir mussten den Bürgern deutlich machen, dass der Islam ein wesentlicher Teil unseres Landes geworden ist, vor dem man keine Angst haben muss.
Trotzdem: 1999 waren Sie gegen die doppelte Staatsbürgerschaft zu Felde gezogen.
Damals hätte die regelmäßige doppelte Staatsbürgerschaft möglicherweise die Bereitschaft der Bürger zur Offenheit gegenüber Migranten eher erschwert. Das war meine Befürchtung. Heute versteht unsere Gesellschaft damit umzugehen. Deshalb die entsprechenden Vorhaben des Koalitionsvertrags. Wir sind eine Wirtschaft, die nur in einer offenen Welt funktioniert. Wir sind ein Land, das schnell altert. Wir brauchen Migration.
Gibt es zentrale Fragen der deutschen Politik, bei denen Sie Ihre Meinung mit den Jahren geändert haben?
Ja, klar. Von der Umwelt- bis zur Frauenfrage sehe ich heute vieles anders als noch vor 20 Jahren. Und vor 20 Jahren wäre ich sicher noch nicht auf die Idee gekommen, eine Islamkonferenz ins Leben zu rufen. Die Welt verändert sich und wir mit ihr. Das finde ich spannend.
Personen verändern sich, Parteien auch. 
Na klar.
Würden Sie rückblickend sagen, dass die Union beim erbitterten Ringen mit der SPD um die Ostpolitik historisch auf der falschen Seite stand?
Jedenfalls hatten wir nicht nur Recht und die anderen nur Unrecht. Bei der Frage der Westintegration war es anders – da hatte die SPD lernen müssen. Das finde ich übrigens sehr gut: Jede Bundesregierung konnte an die Arbeit der Vorgängerregierung anknüpfen. Das habe ich in den 1980er Jahren intensiv empfunden. 1984 wurde ich Chef des Kanzleramts und war damit zuständig für die Beziehungen zur DDR. Ich habe damals oft mit Egon Bahr geredet. Seitdem habe ich zu ihm ein fast freundschaftliches Verhältnis. Diese Kontinuität ist wichtig.
Und wie sehen Sie das Jahr 1968, das Jahr der Studentenproteste?
Ja, das ist auch so ein Punkt, wo ich meine Meinung im Laufe der Jahre geändert habe.
Erzählen Sie!
In meiner eigenen Familie musste ich die große politische Auseinandersetzung mit den Eltern nicht führen. Die hatten nichts mit den Nazis zu tun gehabt. Ich habe Glück gehabt. Ich habe die Studentenproteste vielleicht auch deshalb zunächst nicht so recht verstanden. Erst später habe ich eingesehen, dass wir Ende der 1960er Jahre ein Stück der notwendigen gesellschaftlichen und geistigen Modernisierung nachgeholt haben, die durch die beiden Weltkriege unterblieben war.
Warum?
Als ich die Werke des Historikers Thomas Nipperdey las, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Wir haben durch die Urkatastrophe des Ersten und Zweiten Weltkriegs ein halbes Jahrhundert verloren, in dem wir die Anpassung und Veränderungen einer modernen Gesellschaft verpasst haben. Zum Beispiel die Frauenfrage – die war kein Thema bei den Trümmerfrauen der 1950er Jahre. So verschoben sich diese notwendigen Debatten. Und dann brach es aus. So vollzieht sich gesellschaftlicher Wandel. Das habe ich damals nicht verstanden. Später schon. Und nicht nur ich, sondern auch meine Partei.
Es war Ihre Idee, den Weg zur Wiedervereinigung über einen Vertrag zu gestalten. Die Pläne dazu lagen bereit, als es so weit war. Haben Sie früher als andere erkannt, dass die Wiedervereinigung kommt?
Anfang des Jahres 1990 habe ich mit Helmut Kohl darüber diskutiert. Ich hatte um Weihnachten 1989 einmal gesagt: Ich weiß gar nicht, ob wir im kommenden Jahr den Bundestag noch in der alten Bundesrepublik wählen. Ich habe da halt mal einen Stein ins Wasser geworfen. Der Generalsekretär der CDU, Volker Rühe, hat das dann öffentlich für dumm und töricht erklärt. Was ganz offensichtlich die Wortwahl Helmut Kohls war. Ich habe deshalb das Gespräch mit Kohl gesucht, um ihm meine Sicht nahezubringen: nämlich die, dass sich Revolutionen in ihrem Prozess immer beschleunigen. Kohls Antwort ist klassisch. Er sagte: „Sie können recht haben, aber ich darf das nicht sagen. Damit stünde ich als der Treibende da.“
Aber Sie konnten damit Vorbereitungen treffen.
Ja. Der Vertrag zur deutschen Einheit, das war in der Tat meine Idee. Ich habe damals eng mit Hans-Dietrich Genscher zusammengearbeitet. Er kümmerte sich vor allem um die 2plus4-Verhandlungen, ich um den Vertrag zur deutschen Einheit.
Der frühere SPD-Innenminister Otto Schily lobt an Ihnen „Geduld, strategischen Weitblick, Geistesgegenwart, eiserne Disziplin und Kaltblütigkeit“. Was braucht man am meisten, um so lange durchzuhalten und Zeiten wie die CDU-Spendenaffäre auszuhalten, die Ihnen nicht nur politisch an die Nieren ging?
Das Wichtigste ist Demut und Gelassenheit. Mir gefällt deswegen insbesondere eine Szene aus dem Film „Don Camillo und Peppone“. Als sich Fernandel als Don Camillo beim Heiland wieder mal über die Umtriebe seines kommunistischen Freund-Feindes beklagte, antwortet der: „Don Camillo, nimm dich nicht so wichtig.“ Man muss lernen, Ungerechtigkeiten zu ertragen. Man behandelt selbst andere ja auch nicht immer gerecht. Man darf nicht bitter werden.
Die Spendenaffäre – ist das für Sie noch eine schwärende Wunde?
So würde ich es nicht nennen. Aber eines bleibt jedenfalls: Die Leute haben schon irgendwie das Gefühl, dass ich etwas getan habe, das nicht richtig war. Ja, ich habe im Bundestag auf einen Zwischenruf falsch reagiert. Von dem abgesehen, habe ich mir nichts vorzuwerfen. Ich habe bei einer Parteiveranstaltung, die zum Einwerben von Spenden durchgeführt worden war, eine Barspende entgegengenommen. Das war nicht die Regel, aber auch nicht verboten. Die habe ich sofort weitergegeben an die dafür zuständige Schatzmeisterin. Jahre später habe ich festgestellt, dass die Spende nicht ordnungsgemäß behandelt worden war.
In der damaligen Anhörung im Untersuchungsausschuss saßen Sie direkt neben CDU-Schatzmeisterin Brigitte Baumeister, und Ihre Aussagen widersprachen sich. Einer sagte nicht die Wahrheit. Die Szene war bedrückend.
Ja, das war nicht schön. Ein Teil ist mir weiter unerklärlich. Ein anderer Teil ist eine boshafte Intrige. Ich glaube zu ahnen, dass die Dame, die damals neben mir saß, da auch eher Opfer als Täterin war.
Sie haben einmal gesagt, in der Politik ist die Bereitschaft wichtig, Führung zu ertragen. Mussten Sie das lernen?
Ja. Aber ich übe ja auch Führung aus. Als mich die Kanzlerin 2009 gefragt hatte, ob ich Finanzminister werde, habe ich geantwortet: „Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun. Ich bin loyal, aber nicht bequem.“ Frau Merkel hat gesagt, genau das sei der Grund für ihre Wahl. Wunderbar. Und mir ist immer bewusst, dass sie die Kanzlerin ist .  .  .
.  .  . und was ist mit Helmut Kohl?
Damals, als vor dem Fall der Mauer die Stimmung in der Union gegenüber Helmut Kohl nicht unbedingt besser wurde, habe ich allen gesagt: Solange ich Chef des Kanzleramts von Helmut Kohl bin, werde ich nicht gegen ihn arbeiten. Wenn ich nicht mehr mit ihm arbeiten wollte, würde ich ihm das selbst sagen. Irgendwann musste ich ihm dann leider sagen, dass ich unsere Beziehung beende. Aber das ist eine andere Geschichte.