Andrés Escobar und der Moment, an dem das Schicksal seinen Lauf nimmt. Das Eigentor bei der WM 1994. Foto: dpa

Im WM-Viertelfinale gegen Brasilien geht es für Kolumbien nicht nur um Fußball. Den größten Erfolg ihrer Geschichte nutzen die lange gebeutelten Südamerikaner als Imagekorrektur und Bewältigung der Vergangenheit. Ein Duell der großen Gefühle.

Im WM-Viertelfinale gegen Brasilien geht es für Kolumbien nicht nur um Fußball. Den größten Erfolg ihrer Geschichte nutzen die lange gebeutelten Südamerikaner als Imagekorrektur und Bewältigung der Vergangenheit. Ein Duell der großen Gefühle.

Cotia - Kolumbien steckt im emotionalen Ausnahmezustand. Nach der tiefen Trauer zum 20. Todestag von Ex-Kapitän Andrés Escobar ist das erste WM-Viertelfinale der Verbandsgeschichte mehr als nur ein Fußballspiel. Mit dem „Geist von Andrés“ will das Überraschungsteam um Shooting-Star James Rodríguez Brasiliens Traum vom sechsten Weltmeistertitel am Freitag (22.00 Uhr MESZ Uhr/ARD) jäh beenden. Mit dabei in Fortaleza: die Geschwister des 1994 getöteten Escobar. „Für immer im Herzen von ganz Kolumbien!!!!“, schrieb Keeper Faryd Mondragon vor der Partie in Erinnerung an seinen früheren Teamkollegen, dessen Todestag sich am Mittwoch zum 20. Mal jährte.

Den anhaltenden Niedergang durch die Ermordung Escobars nach dessen Eigentor bei der WM in den USA hat Kolumbien inzwischen überwunden. „Dieses Team ändert die Geschichte. Wir stellen die Größe und das Image unseres Landes wieder her“, betonte Verteidiger Carlos Valdés. Die neue Generation um Fünffach-Torschütze Rodríguez gibt dem Fußball in der Nation, die lange vom Drogenkrieg gebeutelt wurde, neue Hoffnung. „Die Jamesmanía hat begonnen - und das mit Recht“, jubelte „El Espectador“ in Vorfreude auf das Duell des 22-Jährigen mit seinem brasilianischen Gegenpart Neymar.

Kolumbien hat viel mehr zu bieten als James Rodríguez
 
Dank vier souveräner Siege startet das Team von Coach José Pekerman voller Selbstvertrauen seinen ersten Auftritt im elitären Club der besten Acht der Welt. „Wir haben keine Angst vor Brasilien“, tönte Borussia Dortmunds neuer Stürmer Adrian Ramos. „Es ist Zeit, dass sich Brasilien um uns Sorgen macht, weil wir die Waffen dafür haben.“

Dazu zählt vor allem Rodríguez - aber Kolumbien hat viel mehr zu bieten als seine Nummer Zehn. Der auch beim FC Bayern gehandelte Antreiber Juan Cuadrado ist bester Assistgeber des Turniers, zudem hat kein WM-Teilnehmer weniger Gegentore kassiert als die Defensive um den reflexstarken Torwart David Ospina. „Auch wenn sie noch viele Jahre vor sich haben und viel passieren kann, werden die Spieler mit Sicherheit in die Ruhmeshalle einziehen“, prophezeite die Zeitung „El Mundo“.

Auf dem Weg in die ewige WM-Ehrengalerie soll nach dem 2:0 im Achtelfinale gegen Uruguay nun der nächste Rivale aus Südamerika gestoppt werden. „Sie spielen gut, aber das müssen sie auch, weil wir gefährlich sein können“, erklärte Rodríguez wenig ehrfurchtsvoll. „Wir sind dabei, Geschichte zu schreiben.“
 
Pekerman: "Die Leute werden es genießen"

Schon einmal schickte sich eine goldene Generation an, Kolumbien ganz nach oben in der Rangfolge des Weltfußballs zu katapultieren. Doch anders als Carlos Valderrama, Escobar & Co., die es 1990 nur ins Achtelfinale schafften, agiert das Pékerman-Team bei mehr Tempo weniger verspielt und hat mit 31 Prozent die höchste Chancenverwertung aller WM-Teilnehmer aufzuweisen. „Es wird eine Partie auf gutem technischen Niveau, mit schönen Toren“, versprach der Coach den Fußball-Feinschmeckern. „Die Leute werden es genießen.“

Auch der ehemalige Bayern-Profi Adolfo „El Tren“ Valencia rechnet seinem früheren Team „alle Chancen“ aus: „Ich sehe ein brasilianisches Gespenst - mit allem Respekt, den die Spieler verdienen - aber ich sage es so, weil man früher ein Brasilien sah, das die anderen Teams hinter sich ließ, und jetzt ist es wie irgendeine der anderen Mannschaften mit einer oder zwei Figuren.“
Als weiteren Grund für die Renaissance gilt der „Faktor E“ („El Tiempo“) - E wie europäische Erfahrung. 20 von 23 Spielern aus dem Kader spielen nicht in Kolumbien, bei der zuvor letzten WM-Teilnahme 1998 lag der Anteil der Legionäre noch bei unter 60 Prozent.

Einer aus dem heimischen Trio ist der frühere Kölner Mondragon - als Einziger stand er bereits vor 20 Jahren mit dem tragischen Anführer Escobar im WM-Team, auch Kapitän Mario Yepes spielte noch mit diesem. In Brasilien sind nun Escobars Schwester María Ester und Bruder Jose auf FIFA-Einladung zu Gast. Vor dem Viertelfinale wandten sie sich mit bewegenden Worten an die Öffentlichkeit und die beiden Weggefährten: „In ihnen und in der Mannschaft lebt der Geist von Andrés weiter“, schrieben sie und hoffen wie manche Beobachter auf eine Beschleunigung der Friedensgespräche in Kolumbien. „Der Fußball muss dazu dienen, das Land rund um eine Botschaft des Friedens und der Liebe zu vereinen.“