Foto: Marijan Murat/dpa/Marijan Murat

Stuttgart sieht sich als „einen der bedeutsamsten Wissenschaftsstandorte in Deutschland und weltweit“. Stimmt das? Ein Überblick vor dem Wissenschaftsfestival 2022.

„Eigentlich“, sagt Matthias Stroezel, „haben wir hier in der Region Stuttgart alles, um in der Verzahnung von Wissenschaft und Wirtschaft ganz vorne zu sein.“ Am Institut für Luft- und Raumfahrt in Stuttgart-Vaihingen hat der geschäftsführende Gesellschafter des Internetdienstleisters SSC Services in Böblingen einst studiert – und der Antrieb, immer Neues entdecken und auch überprüfen zu wollen, scheint ungebrochen. Das galt für die Ausrichtung des Unternehmens in Sachen Familienfreundlichkeit und das konsequente Arbeiten in flachen Hierarchien.

Neuland entdecken

Und es gilt jetzt, wenn Stroezel von den Möglichkeiten des Höchstleistungsrechenzentrums Stuttgart schwärmt: „Mit der Digitalisierung der Kultur- und Kreativwirtschaft haben sich für unser Unternehmen direkte Anknüpfungspunkte entwickelt“, sagt der 55-Jährige: „Wir möchten da helfen und uns weiterentwickeln.“

Unternehmer Matthias Stroezel Foto: SSC

Besser werden, experimenteller werden, schneller werden, mutiger werden und übergreifend enger zusammenarbeiten – geht es nach Baden-Württembergs Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) sind genau dies die Ansatzpunkte, um das Land als Ganzes und die Region Stuttgart im Besonderen noch besser als Wissenschaftsstandort zu positionieren. „Wir müssen Wissenschaft und das Innovationssystem stärken“, sagt Bauer unserer Zeitung, „regulatorisch, finanziell und strukturell.“ Und sie betont: „Aus guten Gründen ist in den letzten Jahren der Begriff der ‚Innovationsökosysteme‘ entstanden, in denen Grundlagenforschung nicht allein als Lieferant neuen Wissens, sondern auch als Kooperationspartnerin der Anwendung gesehen wird.“

Saskia Biskup, eine der führenden Humangenetikerinnen nicht nur in Deutschland und als Geschäftsführerin der Tübinger Cegat GmbH (führender Anbieter von Genanalysen) auch als Unternehmerin gefeiert, hat hierzu eine eigene Meinung. „Die Wissenschaft geht in großen Schritten voran“, sagt die Schrittmacherin der personalisierten Medizin, „aber die politischen und regulatorischen Hürden sind hoch.“

Forscherin und Unternehmerin: Genomspezialistin Saskia Biskup Foto: Cetag

An was fehlt es aus ihrer Sicht vor allem? „Mut zur Veränderung. Mut zum Risiko. Weg von der politischen Fehlervermeidungskultur hin zu mehr unternehmerischen Handeln. Vor allem aber echte Kooperation von Entscheidern am Standort im Sinne der Sache.“ Hierzu beitragen will das 2. Wissenschaftsfestival Stuttgart. Es findet dieses Jahr von 23. Juni an bis zum 3. Juli statt – und Stadtdirektorin Ines Aufrecht freut sich als Projektverantwortliche: „Beteiligt sind rund 130 Projektpartner – von Universitäten, über Hochschulen, wissenschaftliche Institutionen sowie außeruniversitäre und kulturelle Einrichtungen.“ „Damit“, so Aufrecht weiter, „hat sich das Wissenschaftsfestival gegenüber der ersten Auflage nahezu verdoppelt.“ Für Aufrecht ist klar: „Das Festival macht die gebündelte Kompetenz an Innovation und Spitzenforschung sichtbar und trägt dies in die breite Bevölkerung.“

Höchstleistungsrechenzentrum als Trumpf

Auch Matthias Stroezel freut sich auf das Großereignis – als Vorstand des Vereins Media Solution Center Baden-Württemberg sieht er sich mitten in einer „unglaublichen Aufbruchsstimmung“. Viele Linien führen dabei ins nationale Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart an der Universität Vaihingen. Gelenkt wird eines von drei Höchstleistungszentren in Deutschland und eines der schnellsten zivilen Computersysteme Europas von Michael Resch, parallel Leiter des Instituts für Höchstleistungsrechnen der Universität Stuttgart.

Resch hat dabei früh erkannt, dass die Supercomputer nicht nur der klassischen Wirtschaft neue Flügel verleihen kann, sondern über die Digitalisierung etwa in der Kultur auch übergreifende Fragestellungen möglich sind. Von „E-Culture“ spricht auch Media Solution Center-Chef Matthias Hauser gern. Die „Vernetzung der Kompetenzzentren aus Wissenschaft, Technik, Kultur- und Kreativwirtschaft“ bringt er auf die Formel „Wir sind in der Renaissance 3.0. angekommen“.

Ines Aufrecht will das Wissenschaftsfestival zum Erfolg führen. Foto: MS

Ines Aufrecht nennt weitere „herausragende Aspekte des Wissenschaftsstandortes Stuttgart“: zwei Institute der Max-Planck-Gesellschaft, vier Institute der industriellen Gemeinschaftsforschung, mehr als 100 Steinbeis-Unternehmen, fünf Fraunhofer-Institute, das Forschungsinstitut für Kraftfahrwesen und Fahrzeugmotoren, das Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoffforschung. Und sie sagt: „Die Innovation zeigt sich etwa im jüngst eröffneten Zentrum für Angewandte Quantentechnologie an der Universität Stuttgart. Hier kommen Experten für Quantenphysik und Photonik mit Ingenieuren zusammen, um die Technologien speziell für Quantensensoren zu entwickeln.“ Und Aufrecht ergänzt: „Ein weiteres Beispiel ist das Forschungsgewächshaus der Universität Hohenheim, das künftig das größte seiner Art in Deutschland sein wird.“

Erfolgsmodell Cyber Valley

In der Logik der Stadt knüpft das Forschungsgewächshaus an die Idee an, die Verwertung wissenschaftlicher (Vor-)Leistungen vor Ort ein- und umzusetzen. Genannt wird hier immer wieder das Cyber Valley, Europas größtes Forschungskonsortium im Bereich der Künstlichen Intelligenz. „Das Cyber Valley“, sagt Ines Aufrecht, „ist mit den Standorten Stuttgart und Tübingen ein exzellentes Beispiel für die überregionale bis hin zur internationalen Zusammenarbeit.“

Alles gut also – sind die Landeshauptstadt und die Region Stuttgart gar eine Wissenschaftsmetropole? Knapp 62 000 Studierende sind allein in Stuttgart an 25 anerkannten Hochschulen eingeschrieben, in nahezu allen Themenbereichen gibt es Spitzeninstitute. Und doch sagt Ministerin Bauer: „Es ist nach wie vor eine Herausforderung, die Region Stuttgart als starke Wissenschaftsregion wahrzunehmen.“ Diese Herausforderung nimmt Stuttgart an – auch mit dem Wissenschaftsfestival. Gerade die Spitzeninstitute sollen in den Festivaltagen ihre Türen weit öffnen. Kinder, Jugendliche sind herzlich willkommen. Beispiele sind der Wissenschaftstag für Schulklassen im Rathaus, der Ausstellungstruck der Expedition d auf dem Marktplatz, die „MS Experimenta“ auf dem Neckar, das Mathematikum im Rathaus. Dort ist auch das Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart zu Gast.

Festival mit hohem Erlebniswert

Klaus Eichenberg lenkt über die BioRegio Stern die Förderung von Themenclustern. Foto: brs

Für Klaus Eichenberg, Geschäftsführer der BioRegio Stern Management GmbH in Stuttgart, zeigen die Allianzen in der Region Wirkung. „Forschung und deren Verwertung vor Ort entsteht durch intensive Netzwerkarbeit“, sagt Eichenberg. Seit 2001 fördert die BioRegio Stern im öffentlichen Auftrag Innovationen und Start-ups – und hat wesentlichen Anteil am Aufschwung der Biotechnologie an den Standorten Stuttgart und Tübingen/Reutlingen. „Der Dialog“, sagt Eichenberg weiter, „funktioniert am besten, wenn ein Cluster über die Grenzen von Kommunen – und Branchen – hinaus agieren kann. In unserem Fall sind das beispielsweise die Universitäten in Stuttgart, Hohenheim und Tübingen, aus deren wissenschaftlichen Erkenntnissen immer wieder Ideen mit großem wirtschaftlichen Potenzial für diese Metropolregion entstehen.“

Horizonte erweitern

Eine Woche ist es bis zum Wissenschaftsfestival 2022. Aus Sicht des Unternehmers Matthias Stroezel kommt das Großereignis „genau zum richtigen Zeitpunkt“. „Alle zusammen können wir die Sichtbarkeit der zentralen Themen erhöhen.“ Und mit dem Media Solution Center Baden-Württemberg wird er nach den Festivaltagen branchenübergreifenden Innovationen auf der Spur bleiben. Sein Credo könnte als Motto einer Wissenschaftsregion Stuttgart gelten: „Wichtig ist es mir, mein Netzwerk und meinen Horizont zu erweitern.“