Bleibt er türkischer Präsident? Recep Tayyip Erdogan muss kämpfen. Foto: dpa/Tunahan Turhan

Am 14. Mai entscheidet es sich: Bleibt Recep Tayyip Erdogan Präsident in der Türkei? Bereits jetzt können türkische Wähler in Deutschland ihre Stimme abgegeben. Darüber, was das für Deutschland und die Türkei bedeutet, haben wir mit dem Politologen Mahir Tokatlı gesprochen.

Der Aachener Politologe Mahir Tokatlı sieht einen großen Einfluss der türkischen Wähler in Deutschland auf den Ausgang der Präsidentenwahl.

Herr Tokatlı, bis zum 9. Mai können türkische Wähler in Deutschland ihre Stimme für die Wahl in der Türkei abgeben. Wie ist die Stimmung in der türkischen Gemeinschaft in Deutschland hinsichtlich der Wahl?

Wie in der Türkei auch ist die Stimmung sehr aufgeladen und heterogen. Einerseits möchten Menschen ein Ende der AKP-Herrschaft, andererseits ist weiterhin eine große Unterstützung für Erdogan und die AKP zu beobachten. Diese Spaltung zieht sich auch innerhalb von Familien. Schließlich sollte man auch unterscheiden zwischen denen, die „nur“ noch ihre Wurzeln in der Türkei haben, und denen, die zusätzlich wählen dürfen, also die türkische Staatsbürgerschaft innehaben.

Welche Bedeutung hat die Wählerschaft in Deutschland für den Ausgang der Wahl?

Türkische Wähler in Deutschland haben einen erheblichen Einfluss. Insgesamt hat die Türkei 87 Wahlkreise, und dazu kommen etwas mehr als 3 Millionen Wähler im Ausland. Die Hälfte davon lebt in Deutschland. Mit 1,5 Millionen Wählern wäre Deutschland etwa der achtgrößte Wahlkreis in der Türkei. Bei der letzten Wahl war die Bereitschaft allerdings nicht so hoch, tatsächlich wählen zu gehen. Während die Wahlbeteiligung in der Türkei bei 88 Prozent lag, war sie in Deutschland bei 45 Prozent. Die Diskrepanz lässt sich durch den größeren Aufwand erklären. Gerade Personen aus kleineren Städten müssen lange Fahrten auf sich nehmen, um zum nächsten türkischen Konsulat zu fahren. Außerdem ist das Interesse nicht bei allen so hoch, Politikverdrossenheit spielt ebenfalls eine Rolle.

Wie betreiben die türkischen Kandidaten in Deutschland Wahlkampf?

Der Wahlkampf ist hier offiziell verboten. Große Wahlkampfveranstaltungen gibt es daher nicht mehr. Es gibt natürlich Möglichkeiten, wie man das umgehen kann. Beispielsweise mit Auftritten von nicht so bedeutsamen Politikern. Oder mit politischen Veranstaltungen, die als Kulturveranstaltungen getarnt sind. Wir haben in Deutschland vor einigen Monaten den Fall gehabt, bei dem ein AKP-Politiker in einer Neusser Moschee dazu aufgerufen hat, die türkische Opposition in Deutschland zu verfolgen. Das war kein Wahlkampf auf demokratischem Boden mehr, sondern Volksverhetzung und der Aufruf zu Straftaten.

Was hat das für Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland?

Solche Veranstaltungen sind schädlich für den gesellschaftlichen Frieden. Wären die Wahlkampfveranstaltungen friedlich und keine Werbung für autokratische Strukturen, Parteien und Politiker, sähe ich sie nicht als Bedrohung. Schließlich ist es eine demokratische Pflicht, sich im Vorfeld von Wahlen zu informieren und informieren zu lassen. Inakzeptabel ist es, wenn man den demokratischen Boden verlässt. Und der wurde häufig verlassen, wenn die AKP hier zum Wahlkampf aufgerufen hat.

In der Vergangenheit hat Erdogan große Unterstützung von der in Deutschland lebenden Wählerschaft erhalten.

Prozentual sind die Stimmen, die Erdogan hier bekommen hat, höher als in der Türkei. Wenn er in der Türkei bei den Präsidentschaftswahlen 52 Prozent erhielt, dann bekam er in Deutschland 64 Prozent. Aber ein Blick auf die absoluten Zahlen kann das in Relation setzen. Von den circa 1,5 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland haben ja nur 45 Prozent gewählt. Die 64 Prozent beziehen sich also auf die umgerechnet etwa 600 000 Menschen, die tatsächlich gewählt haben.

Warum hat Erdogan von dieser Gruppe so viel Unterstützung erhalten?

Zum einen sind viele, die ihre Staatsbürgerschaft behalten haben, eher konservativ, während aus politischen Motiven hier Lebende diese oft abgegeben haben. Zum anderen hat sich Erdogan in der Vergangenheit um die Stimmberechtigten hier symbolisch gekümmert, während sie vorher von der türkischen Politik vernachlässigt wurden. Eine weitere Erklärung wäre, dass die Menschen hier mit Alltagsrassismus konfrontiert sind. Erdogan stellt für einen Teil eine Sehnsuchtsfigur dar, weil er Zugehörigkeit stiftet und Stärke ausstrahlt.

Wird Erdogan hier auch bei dieser Wahl viel Unterstützung erhalten?

Das ist schwer einzuschätzen. In Umfragen sieht es so aus, als würde Erdogan in der Türkei an Stimmen verlieren. Ökonomische oder politische Krisen, wie der Wandel der Türkei in eine Autokratie, sind für viele abstrakt. Auch weil man nicht vor Ort lebt. Das Erdbeben und das schwache Katastrophenmanagement allerdings könnten zu einem Umdenken bei den hier Stimmberechtigten führen. Die Betroffenheit, oder auch die potenzielle Betroffenheit, bei einem weiteren Erdbeben ist viel konkreter, wenn auch Verwandte ihre Existenzen verloren haben könnten. Erste Beobachtungen zu der jetzigen Wahl lassen aber auf eine höhere Wahlbeteiligung schließen. Gerade die AKP scheint tatkräftig zu mobilisieren.

Was würde eine Niederlage Erdogans für die hier lebenden Türken bedeuten?

Erdogan würde für viele als Identitätsfigur wegfallen. Für diejenigen, die nicht Erdogan- oder AKP-affin sind, wäre eine Niederlage Erdogans nach 21 Jahren mit immens viel Hoffnung verbunden. Etwa für die Leute, die nicht in die Türkei fliegen, weil sie sich auf Social Media mal kritisch geäußert haben. Die rechtsstaatliche Willkür, Probleme bei der Ein- oder Abreise zu bekommen, könnte wegfallen. Eine Liberalisierung der Türkei wäre möglich, eine Demokratisierung eher nicht.

Das Gespräch führte Theresa Heil.

Wissenschaftler und Wahlanalytiker

Forscher
Mahir Tokatlı (37) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft an der Technischen Hochschule Aachen. Im Rahmen seiner Promotion, die er 2019 abschloss, forschte er zu den verschiedenen Regierungsformen in der Türkei ab 1921.

Autor
Regelmäßig schreibt er Wahlanalysen für die Zeitschrift für Parlamentsfragen.