Weiße Rosen liegen in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar. Foto: dpa

Vor 70 Jahren spaltete die Stuttgarter Schulderklärung den deutschen Protestantismus. Mehr als ein Bekenntnis vor Gott?

Stuttgart - Deutschland, 1945. Die Städte liegen nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern, die braunen Parolen vom „Endsieg“ sind verhallt. Wie sollte die evangelische Kirche auf diesen Zusammenbruch reagieren - eine Kirche, die sich in Teilen mit der nationalsozialistischen Sache gemein gemacht hatte?

Christen bekennen ihre Mitschuld

„Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden“, heißt es in dem Dokument, das als Stuttgarter Schulderklärung in die Geschichte einging. „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Es war die erste Stellungnahme aus dem Volk der Täter – vor der Weltöffentlichkeit zum abgründigsten Kapitel der deutschen Geschichte, der nationalsozialistischen Unrechts- und Gewaltherrschaft. Wie keine andere Erklärung der Evangelischen Kirche löste das Stuttgarter Schuldbekenntnis in den ersten Nachkriegsjahren eine heftig geführte Kontroverse aus.

Am 18. und 19. Oktober 1945 trafen sich die Mitglieder des neu gegründeten Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in der Stuttgarter Markuskirche. Am 19. Oktober unterzeichneten die protestantischen Bischöfe und Kirchenpräsidenten ein Schuldbekenntnis, das gleichzeitig einen Neuanfang signalisierte. Damit ernteten sie vor 70 Jahren einen Sturm der Entrüstung. Was war geschehen?

„Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden“

Die Vertreter des deutschen Protestantismus gestanden ihre Mitschuld daran ein, was Deutsche während der NS-Diktatur an Verbrechen und Unrecht begangen oder stillschweigend zugelassen hatten. „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Zu den Unterzeichnern gehörten neben dem württembergischen Landesbischof und ersten EKD-Ratsvorsitzenden Theophil Wurm der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann, Oberkirchenrat Hanns Lilje und Pastor Martin Niemöller, der aus der Haft im Konzentrationslager heimgekehrt war sowie Christian Asmussen und Otto Dibelius. Die Streitfrage, ob es sich um ein Bekenntnis vor Gott oder auch um ein politisches Bekenntnis handele, spaltete auch den Protestanten-Rat selbst. Während Lilje betonte, dass es eine rein kirchliche Erklärung sei, sah Niemöller dies ganz anders: Mit ihrem Schuldbekenntnis habe die Evangelische Kirche auch die politische Mitverantwortung übernommen.

Zwischen den Fronten

Man sei, so schrieb Bischof Wurm später, zwischen zwei Fronten gestanden: „Zwischen denen, die nicht wenig genug, und denen, die nicht genug Buße fordern konnten.“ Dieser Zwiespalt entsprach der damaligen Stimmungslage. Den Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ empfanden viele Deutsche nicht als Befreiung, sondern als Niederlage. Ihnen fiel es schwer, ihre Schuld zu erkennen, geschweige denn sie öffentlich einzugestehen.

Der EKD-Rat stand bei seiner Oktober-Sitzung enorm unter Druck. Hochrangige Kirchenvertreter aus Ländern, gegen die kurz zuvor noch Krieg geführt worden war, hatten sich nach Stuttgart aufgemacht, um die Beziehungen zu den evangelischen Kirchen wieder aufzunehmen. Doch dazu brauchte es ein klar wahrnehmbares Zeichen des deutschen Protestantismus, das die Mitverantwortung für die NS-Verbrechen deutlich machte. Das sollte das Stuttgarter Schuldbekenntnis leisten.

Mehr als ein taktisches Papier

Dennoch ist die Erklärung nicht nur ein taktisches Papier, betont der Münchener Historiker Harry Oelke, Vorsitzender der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Ein Bewusstsein für die Verstrickungen der Kirche in den Nationalsozialismus und ein persönliches Schuldempfinden habe sich bei einigen Ratsmitgliedern schon in den Monaten vor der Erklärung gezeigt. Dass der Besuch ausländischer Kirchenvertreter den Prozess hin zu einem Schuldbekenntnis aber beschleunigt hat, steht für Oelke außer Frage.

Die Erklärung selbst war relativ allgemein und eher vage formuliert. Konkrete Schuld wurde nicht beim Namen genannt. Weder war vom millionenfachen Mord am jüdischen Volk, von Vernichtungslagern wie Auschwitz, Sobibor und Treblinka, noch von den Verbrechen an Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen die Rede. So ist der Massenmord an den Juden mit keiner Silbe erwähnt. Die Formulierungen im Komparativ („nicht mutiger“, „nicht treuer“, „nicht brennender“) können so verstanden werden, dass durchaus viel Mut, Treue und Brennen vorhanden gewesen seien, aber eben nicht genug. Die Verstrickungen mit dem Regime und das unselige Wirken der „Deutschen Christen“ sowie der Antisemitismus in der Kirche finden keine Erwähnung. Unpräzise bleibt zudem, wer überhaupt mit dem „wir“ in der Erklärung gemeint ist - nur die Unterzeichner oder alle Evangelischen oder gar das ganze deutsche Volk?

Kontroverse Debatte

Innerhalb Deutschlands traf das Dokument hingegen zum Teil auf heftige Ablehnung. Im hannoverschen Kirchenamt füllten die Protestbriefe ganze Kartons. Menschen fühlten sich für Verbrechen in Mithaftung genommen, obwohl sie sich unschuldig fühlten. In ihrer Selbstwahrnehmung waren sie Opfer, nicht Täter.

Und doch ebnete das Bekenntnis den Weg zur Aussöhnung mit den ausländischen Schwesterkirchen. Außerhalb Deutschlands zeigte es den gewünschten Erfolg. Kirchengemeinden etwa in den USA schickten Hilfspakete an die ausgebombten Glaubensgeschwister. Auch einer Rehabilitierung deutscher Protestanten und einer Mitarbeit in weltweiten ökumenischen Gremien wurde der Weg gebahnt.

Die Kirche und ihre „Wächterfunktion“

Nach Ansicht des Zeitgeschichtlers Oelke hat die Stuttgarter Schulderklärung darüber hinaus eine immense Langzeitwirkung. Das Dokument stehe am Anfang einer Kette von Beschlüssen, die das demokratische Denken tief im Protestantismus verankert haben. Diese demokratischen Ansätze habe es in der regimekritischen „Bekennenden Kirche“ noch nicht gegeben. Außerdem habe die evangelische Kirche ihre „Wächterfunktion“ entdeckt, mit der sie seitdem die Politik kritisch begleite.

So ermöglichte das Schuldbekenntnis bereits im März 1946 die Aufnahme der EKD in den Ökumenischen Rat der Kirchen. Entgegen dem positiven internationalen Echo löste das Wort der Kirchenmänner in den Gemeinden einen Sturm der Empörung aus. Nur vier von 27 Landeskirchen stellten sich hinter die Erklärung, die ein Politikum ersten Ranges darstellte. Viele sahen in dem Stuttgarter Bekenntnis eine Nestbeschmutzung und Anerkennung der Kollektivschuld der Deutschen. Doch nicht um die pauschale Verdammung eines ganzen Volkes ging es, sondern - wie es der spätere Bundespräsident Theodor Heuss formulierte - um eine „Kollektivscham“: Die Deutschen hatten ein Regime zugelassen, das Terror und unsagbares Leid über Millionen Menschen brachte.

Ein Neuanfang

Der Aufruf der EKD-Gründer, „in unseren Kirchen einen neuen Anfang“ zu wagen, verhallte damals vielerorts noch ungehört. Heute ist das Stuttgarter Bekenntnis längst als ein Meilenstein und Wendepunkt in der deutschen Zeit- und Kirchengeschichte anerkannt.