Wikipedia gibt es in 280 Sprachen. Foto: dpa

Wikipedia ist die größte nichtkommerzielle Webseite. Doch wer steckt hinter dem Mitmach-Lexikon? Zu Gast bei Wikipedia-Autoren in Stuttgart.

Wikipedia ist die größte nichtkommerzielle Webseite. Doch wer steckt hinter dem Mitmach-Lexikon? Zu Gast bei Wikipedia-Autoren in Stuttgart.

Stuttgart - In der Bahn nach Stuttgart klinkt sich Pendler Martin Rust in die Welt des Wissens ein: eine Stunde hin, eine Stunde zurück. Online surft der Lorcher in einem Kosmos, der sich in 1,7 Millionen Begriffe auffächert – die Webseiten der deutschsprachigen Wikipedia. Besonders oft klickt Rust mit seinem Smartphone Eisenbahnen und Dörfer und Städte Baden-Württembergs an – Dampfrösser und Historisches gehören zu seinen

Hobbys. Wer sie auf den Seiten der größten Enzyklopädie der Welt nicht exakt beschreibt, wird verbessert. Rust ist ein Mann mit Überzeugungen: Er will, dass die Welt mehr weiß. Rust ist ein Wikipedianer.

So nennen sich jene Leute, die sich für die größte nichtkommerzielle Webseite der Welt einsetzen. Jeder kann hier mitmachen. Dass aus einer Webseite binnen zwölf Jahren das größte Wissensprojekt der Menschheitsgeschichte wurde, hat Wikipedia der Mitarbeit seiner Freiwilligen zu verdanken. Rund 500 Millionen Menschen nutzen die Online-Enzyklopädie derzeit weltweit zumindest einmal im Monat. Allein in Deutschland werden pro Stunde 1,5 Millionen Seiten aufgerufen – für Hausaufgaben und für Referate; für die Fragen der Kinder; für das Reiseziel. Wer nicht weiterweiß, geht auf Wikipedia. Auf diese Weise hat die Webseite große Macht entfaltet. Sie beeinflusst Meinungen und prägt das Image von öffentlichen Personen. Firmen hoffen der Verkäufe wegen, dass sie gut dargestellt sind, und Bürgermeister wegen der Touristen.

Zum Kreis der Mächtigen gehört auch Rust. Er ist einer von rund 6000 angemeldeten Nutzern, die mindestens fünf Lexikonseiten monatlich für die deutschsprachigen Seiten verfassen. „Aktiver Autor“ heißt das. Doch ihre Zahl geht zurück – in den vergangenen drei Jahren fiel sie um 1000. Wikipedia hat ein Nachwuchsproblem.

Das ist an einem Abend im Nebenzimmer eines Stuttgarter Cafés zu bemerken. Erstmals seit mehr als einem Jahr kommen Rust und andere Autoren aus der Region zu einem Stammtisch zusammen, denn sie wollen sich austauschen über knifflige Fragen oder einfach auch nur sehen, wer leibhaftig hinter den Autoren-Pseudonymen steht, die die Beiträge prägen. Acht sind es, sie alle schreiben über ihre Lieblingsinteressen – über Wolkenkratzer und mittelalterliche Geschichte, über Sakralbauten und Lokalpolitik. Oder sie fotografieren Prominente wie Rudolf Simon, dessen Antrieb exemplarisch ist: „Ich habe das Glück gehabt, viel Wissen zu sammeln. Jetzt möchte ich es weitergeben.“

Nur jeder zehnte Wikipedia-Autor ist eine Frau

Neben ihrem Wissensdurst haben sie noch etwas gemeinsam: Sie alle sind Männer. Nur jeder zehnte Wikipedia-Autor ist laut einer Untersuchung eine Frau.

Natürlich würden sie auch weibliche Autoren kennen, heißt es am Tisch – aber nicht viele. Für die geringe Frauenquote sei wohl auch der zuweilen ruppige Umgangston unter den Schreibern ein Grund: In den sogenannten „Edit Wars“ zu Artikeln, den Bearbeitungskriegen, diskutieren die Autoren mit Worten, die manchmal unterhalb der Gürtellinie zielen; ohnehin ist die Internet-Etikette etwas weniger fein. „Bei Themen, die Frauen betreffen, ist der Ton oft abstoßend und bei Themen wie Feminismus extrem frauenfeindlich“, sagt ein Mittdreißiger, der nicht mit Namen genannt werden möchte.

Darüber macht man sich auch beim Verein Wikimedia Deutschland Sorgen, der die deutschen Wikipedia-Seiten unterstützt. „Je breiter die Autorenschaft ist, desto besser kann Wikipedia sein“, sagt Sprecherin Catrin Schoneville. „Ein 30-jähriger Mann schreibt aus einer anderen Perspektive zu einem Thema wie Emanzipation – auch wenn der neutrale Schreibstil bei uns oberstes Gebot ist.“ Wikimedia hat deshalb in den vergangenen drei Jahren Hunderte Frauen und Senioren gefördert, um die Vielfalt der Autoren und damit der Beiträge zu verbessern. „Wir versuchen, Frauen über spezielle Workshops zu Wikipedia zu bekommen“, sagt Silvia Stieneker, die in Berlin ein Projekt leitet. Auch im Südwesten soll im kommenden Jahr das Angebot vergrößert werden. Der Autorenschwund konnte dadurch aber noch nicht gestoppt werden. „Wir müssen technische und soziale Hürden abbauen, damit Wikipedia wieder attraktiver und leichter wird“, sagt Schoneville.

Qualitätskontrollen sollen Manipulationen verhindern

Ein Grund für die höhere Einstiegshürde sind die neuen Qualitätskontrollen, die die Kritik an fehlerhaften Beiträgen nach sich zog. Berühmt wurde der zusätzliche Vorname, den Ex-Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg erhielt. Und vor einigen Jahren jubelte ein unangemeldeter Nutzer dem Gemeinderat von Steinach im Ortenaukreis fünf NPD-Mitglieder unter. Sechs Wochen später korrigierte dies ein ebenfalls unangemeldeter anderer Nutzer. Seitdem hat Wikipedia „gesichtete Versionen“ eingeführt. Wer nicht angemeldet oder neu dabei ist, muss seine Vorschläge von einem erfahreneren Benutzer sichten lassen, bevor sie allen angezeigt werden. Das hätte den NPD-Falscheintrag wohl verhindert, sagt Autor Rust. Andererseits baue es eine kleine Hürde für Neueinsteiger auf und könnte diese demotivieren.

Der Umgang mit den „gesichteten Versionen“ ist deshalb unter den Wikipedia-Autoren umstritten. Schließlich sind alle freiwillig dabei und wollen möglichst ungehindert ihr Wissen aufschreiben und diskutieren. Andererseits sind viele auch froh, wenn Unruhestifter, die Falscheinträge oder Kommentare wie „Paul ist blöd“ einstellen, schnellstmöglich verbannt werden.

Auf Beschwerden reagiert das lexikoneigene Löschkommando. Die deutschsprachige Community hat 300 sogenannte Administratoren gewählt, die Artikel tilgen oder Nutzer zumindest zeitweise sperren können. Einer davon ist „Wnme“ – das Kürzel verweist auf die Buchstaben seines Namens, den er nicht veröffentlichen möchte. Schließlich seien einige gesperrte Autoren nicht gut auf ihn zu sprechen. Wichtig nimmt sich Wnme deswegen nicht. Wie überhaupt die Wikipedianer kaum zur Selbstdarstellung neigen, ganz im Sinne ihres Projekts: „Ich führe nur aus“, sagt Wnme. „Ich selbst spiele keine entscheidende Rolle.“

Wikipedia-Fakten

Laut den Web-Analysten von Alexa ist Wikipedia nach Google, Facebook, You Tube, Yahoo und Baidu die populärste Webseite weltweit – und damit die populärste nichtkommerzielle. In Deutschland rangiert Wikipedia hinter Google.de, Facebook, You Tube, Google.com, Ebay und Amazon auf Rang sieben.

Die englischsprachige Wikipedia-Version ist die größte, gefolgt von der deutschsprachigen. Seit Mai 2001 sind rund 1,7 Millionen Artikel in deutscher Sprache entstanden. Für die Einträge gibt es Relevanz-Kriterien. So muss ein Unternehmen beispielsweise mindestens 1000 Mitarbeiter beschäftigen oder jährlich mehr als 100 Millionen Euro umsetzen. Insgesamt gibt es Wikipedia in 280 Sprachen.

Wikipedia finanziert sich fast ausschließlich aus Spenden, Kleinspenden im unteren Euro-Bereich dominieren. Sie sammelt der Verein Wikimedia Foundation mit Sitz in San Francisco ein, der sich auch um Rechtsfragen und technische Ausstattung kümmert. Er betreibt auch andere Wiki-Projekte wie das Medienarchiv Wikimedia Commons oder das Wörterbuch Wiktionary. Der Verein hat 250 Mitarbeiter weltweit, 60 davon arbeiten bei Wikimedia Deutschland.

Einmal im Jahr versammeln sich die deutschsprachigen Wikipedia-Autoren und solche, die es noch werden möchten, auf einer Konferenz. Die WikiCon findet dieses Jahr vom 22. bis 24. November in Karlsruhe statt. Das Programm gibt es unter: www.stn.de/wiki