Vom Kinderzimmer aus verbreitet sich die Materialflut in der ganzen Wohnung. Foto: IMAGO/Johner Images/IMAGO/JohnŽr Images/Victoria Henriksson

Vom Kinderzimmer aus breiten sich Spielsachen und Basteleien in der ganzen Wohnung aus. Eltern können das alles ständig wegräumen – oder sich am poetischen Zauber der kindlichen Installationen erfreuen.

Was war da los auf dem mütterlichen Nachtkästchen? Warum brach das Licht plötzlich nicht mehr gleichmäßig durch den weißen Keramiklampenschirm, wie es das seit Jahrzehnten tat? Was für Böbbele steckten in seinem Muster aus Löchern?

 

Kinder verändern das Leben – das ist eine Binse, klar. Aber der florale Hintergrund dieser Redewendung führt auf die richtige Spur. Denn was den Lichtfluss umlenkte, waren Eichkätzle, diese silbern glänzenden, flauschigen Knospen des Liguster. Abgezupft vom geweihten Palmsonntagswedel bei der Urgroßmutter und dann in neue Zusammenhänge eingepasst von der siebenjährigen Tochter. Warum auch nicht? „Dann kitzelt es, wenn du die Lampe streichelst.“

Vom Kinderzimmer aus invadieren die Dinge alle Räume

Eichkätzle im Lampenschirm – das ist nur eine der vielen Spuren, die die Kinder im Laufe der Jahre durch die Wohnung gelegt haben. Natürlich gibt es – ganz vordergründig – die Trillionen Dinge („Mama, wie viele Nuller hat die Trillion?“ – „Äh ja . . . sehr viele!“), die mit ihnen nach und nach eingezogen sind und alle innenarchitektonischen Konzepte unter sich begraben. Vom Hauptquartier Kinderzimmer aus invadieren sie täglich die Räume wie eine unbesiegbare Armee, die dann auf Teppichen, Sideboards und Tischen ihr Lager aufschlägt.

Nicht mal das Bad ist sicher! Auf der Ablage vor dem Spiegel strandet alles, was die Kinder gerade in den Händen halten, wenn sie der zehnten elterlichen „Zähneputzen!“- Aufforderung endlich folgen: Legosteine, kleine Blöcke, Hüpfbälle, Brotrinden, Comic-Hefte. Zwei Minuten Zahnreinigung? Da lässt sich doch locker nebenbei eine Reihe Bügelperlen stecken oder der besten Freundin noch ein Brieflein schreiben.

Einzigartige Stillleben

So entstehen überall im Haus kuriose Stillleben aus Zettelchen, Stiften, Fußballsammelkarten, gefundenen Steinen und Rindenstücken, Strickliesel-Wollwürsten, Plastikfigürchen, Bonbolepapier, Aufkleberbögen, Murmeln, geknüpften Armbändern, Laubsägeherzen, leeren Klebestiften.

Aber anstatt sie als Vantias-Motive festzuhalten wie so ein postmoderner Brueghel oder Cézanne (Bedenke, dass das Kind bald groß und du alt bist!), versuchen die Eltern, sie alle paar Tage abzutragen wie so ein postmüder Sisyphos. Oder die Mutter findet im Büro in ihren Hosentaschen all die Kleinigkeiten wieder, die sie zu Hause irgendwo aufgesammelt hat, um sie ins Kinderzimmer zurück zu tragen, was sie dann auf halbem Wege wieder vergaß.

An dieser Vergeblichkeit des Hinterherräumens liegt es auch, dass manche Dekoration einfach bleibt. Wie diese Konstruktion aus Wollfäden, einer Wasserflasche und drei Haargummis, die monatelang am Treppengeländer baumelte. Oder das Arrangement aus einer leeren Konservendose (ganze Tomaten, geschält), einem haarlosen Pinsel und Klebeband auf der Küchenfensterbank. Oder der mit einer Kordel kopfüber ans Bein des Beistelltisches gefesselte Playmobilpirat.

In der Tradition Marcel Duchamps

Das Haus ist voller temporärer und langfristiger Installationen, an denen Marcel Duchamp, der vor 100 Jahren eine Toilettenschüssel als so genanntes Ready-made ausstellte, sicherlich seine Freunde gehabt hätte. Es ist vielleicht nicht übertrieben zu sagen, dass es eine direkte Linie von Duchamps Klo über Andy Warhols Bild einer Campbell’s Tomatensuppendose bis in unser Wohnzimmer gibt. Der mütterliche Stolz auf die kreative Kraft der Kinder-Konstruktionen ist es auch, der diese bisweilen vor der Dekonstruktion rettet. Wohnt den Eichkätzle im Lampenschirm nicht eine beiläufige Poesie inne, die die Dinge in ein neues, eben leicht umgelenktes Licht versetzt?

Von Dauer ist hier ohnehin nichts. Eines Tages waren die Kuschelknubbel vom Nachtkästchen wieder verschwunden. Herausgepopelt, um sie mit Glitzersteinen zusammen in neue künstlerische Kontexte zu bringen. Aus der Zauber, neuer Zauber.