Derzeit erkranken in Deutschland jedes Jahr rund 2000 Kinder neu an Krebs. Die Heilungsrate liegt etwa bei 80 Prozent. Foto: picture alliance/dpa/Tobias Hase

Immer mehr Kinder und Jugendliche erkranken an Krebs – ohne dass Krebsforscher eine plausible Erklärung dafür haben. Stefan Pfister, einer der führenden Kinderonkologen bundesweit, zeigt auf, was die Therapie gerade in dieser Altersgruppe erschwert.

Derzeit erkranken in Deutschland jedes Jahr rund 2000 Kinder neu an Krebs. Für Ärzte seien die Erkrankungen eine unglaubliche Herausforderung, sagt einer der führenden Kinderonkologen Deutschlands, Stefan Pfister. Der Direktor des Hopp-Kindertumorzentrums in Heidelberg wurde 2022 für seine Forschung mit dem wichtigsten deutschen Wissenschaftspreis, dem Leibniz-Preis, ausgezeichnet. Was man über Tumore im Kindesalter weiß und welche Therapien es gibt, sagt der 48-Jährige anlässlich des Weltkinderkrebstags.

 

Herr Pfister, was unterscheidet Kinderkrebs von Erkrankungen bei Erwachsenen?

Alle typischen Krebserkrankungen, die es bei Erwachsenen gibt – wie Brust-, Darm-, Prostata- oder Lungenkrebs –, gibt es bei Kindern fast gar nicht. Sie erkranken dagegen an akuten Leukämien, Hirntumoren, Tumoren des Bindegewebes oder anderen Tumoren, von denen viele mutmaßlich schon während der embryonalen Entwicklung entstehen. Diese kommen wiederum bei Erwachsenen entweder gar nicht oder nur sehr selten vor.

Wie gut ist Krebs bei Kindern heilbar?

Die Heilungsrate aller Tumorarten im Kindes- und Jugendalter liegt etwa bei 80 Prozent. Dabei muss man berücksichtigen, dass einige Tumore zu fast hundert Prozent heilbar sind, es aber auch solche gibt, die gar nicht kurativ therapierbar sind – beispielsweise Bindegewebstumore, die bereits Metastasen gebildet haben, oder bestimmte Hirntumorarten. Auch bei den Leukämien gibt es Ausprägungen, die nur selten heilbar sind. Dennoch kann man sagen, dass die Chance auf Heilung bei Krebs im Kindesalter allemal besser ist als bei Erwachsenen. Bei diesen beträgt die Chance etwas mehr als 50 Prozent. Andererseits stellen wir fest, dass Krebserkrankungen im Kindesalter langsam, aber kontinuierlich zunehmen. Die Gründe hierfür kennen wir aber nicht.

Was sind die Gründe für die hohe Heilungsrate?

Das haben wir Onkologen zu verdanken, die sich in den 1970er und 1980er Jahren getraut haben, bei krebskranken Kinder sehr intensive Kombinationstherapien anzuwenden. Damals wurde den Ärzten vorgeworfen, man könne damit ohnehin todkranke Kinder nicht auch noch stark belasten. Dabei war es ein völlig neuer Ansatz, Kinder von Beginn an sehr intensiv zu behandeln und das auch noch über einen relativ langen Therapiezeitraum von bis zu zwei Jahren – um zu verhindern, dass die Tumore wieder zurückkommen. Es zeigte sich auch, dass Kinder intensivere Therapien besser verkraften können: Ihre körperliche Regenerationsfähigkeit ist deutlich stärker ausgeprägt als bei Erwachsenen.

Sind Krebstherapien im Kindesalter also herausfordernder?

Die Intensität der Therapie ist definitiv eine Herausforderung. Aber es gibt noch andere Besonderheiten, die eine Krebstherapie bei Kindern mit sich bringt: Zum einen hat man es nie mit einem Patienten, sondern stets mit der ganzen Familie zu tun, die in der Regel über die beste Therapieoption für das erkrankte Kind entscheidet. Hinzu kommt die Wahl der Therapie und der Medikamente, die bei Kindern sehr viel komplizierter ist als bei Erwachsenen, weil die große Mehrheit der verfügbaren Therapien nie bei Kindern getestet wurde.

Stefan Pfister forscht, wie Therapien bei Kindern mit Hirntumoren verbessert werden können. Foto: DKFZ

Inwiefern?

Weil die kindlichen Tumore bei Erwachsenen praktisch gar nicht vorkommen – oder nur sehr selten –, wurden sie bei der Entwicklung von Therapien und Medikamenten fast gar nicht berücksichtigt. Wir Kinderonkologen können bislang in der Regel nur Anleihen machen aus den Entwicklungen im Bereich der Erwachsenenonkologie. So ist es aber ungleich schwerer, eine Therapie zu finden, die auf die Biologie des Tumors eines Kindes abgestimmt ist. Es kann manchmal passen, aber in anderen Fällen eben nicht.

Wie versucht man diesen Herausforderungen zu begegnen?

Ich nenne es eine große Errungenschaft der Kinderonkologie, dass wir Ärzte seit mehreren Jahrzehnten sehr eng zusammenarbeiten: Es werden Erkenntnisgewinne und Therapieverläufe bei Patienten weltweit geteilt.

Was sind die Herausforderungen in Ihrem Forschungsgebiet – den Hirntumoren?

Hirntumore machen etwa ein Drittel aller Tumore aus, die bei Kindern auftreten können. Sie weisen eine enorme Vielfalt auf, was die Suche nach einer spezifischen Therapie schwierig macht. Hinzu kommt, dass Gehirne hochsensible Organe sind: Operationen, Strahlen-, Chemo- oder Immuntherapien bergen das Risiko, Kollateralschäden zu verursachen. Gleichzeitig sollen geheilte Patienten die Perspektive haben, noch siebzig weitere Jahre zu leben. Bei einigen Tumorarten stellt sich die Frage, ob man vergleichsweise weniger intensiv behandeln kann, um bei einer sehr hohen Heilungschance Langzeitschäden zu reduzieren. Bei anderen Tumorarten muss man wirklich alles auf eine Karte setzen, inklusive völlig neuartiger Therapieoptionen, um überhaupt eine Chance auf eine Heilung zu haben.

Sie nutzen Künstliche Intelligenz, um Hirntumore zu klassifizieren. Wie funktioniert dieses Verfahren?

Allein bei Kindern gibt es etwa 150 verschiedene Hirntumorarten. Einige sind so selten, dass sie in Deutschland höchstens einmal im Jahr diagnostiziert werden. In solchen Fällen ist es für Pathologen sehr schwer, anhand einer Gewebeprobe einen spezifischen Tumor zu klassifizieren. Wir haben daher mithilfe von Künstlicher Intelligenz ein Verfahren entwickelt, mit denen Tumoren aufgrund ihrer epigenetischen Eigenschaften sehr präzise klassifiziert werden können. Inzwischen haben wir etwa 150 000 Hirntumorprofile in der Datenbank und kommen langsam dahin, dass die Software Tumorarten sicher klassifizieren kann, die selbst erfahrene Pathologen nur ein- oder zweimal in ihrer gesamten Karriere unter dem Mikroskop sehen.

Wie viel kommt von Ihrer Forschung schon im klinischen Alltag an?

Unsere Arbeit ist inzwischen zur Grundlage für die Hirntumor-Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation geworden. Und das ist die nächste Herausforderung: Wir sollen und wollen unsere KI-gestützte Software jetzt als Medizinprodukt liefern, sodass sie in der ganzen Welt in der Diagnostik verwendet werden kann. Das wird voraussichtlich in ein bis zwei Jahren der Fall sein. Wir mussten dafür extra eine Firma gründen, um das Haftungsrisiko für die diagnostische Verwendung der Software nicht mehr an einem öffentlich geförderten Institut verortet zu haben.

Bei Kindern sind Krebserkrankungen – so scheint es – Schicksal. Gibt es dennoch Möglichkeiten der Früherkennung?

Krebs bei Kindern entsteht häufig durch einen Zufall – wahrscheinlich schon in der embryonalen Entwicklung. Es gibt aber auch eine erbliche Komponente, die etwa bei zehn bis 15 Prozent der Fälle die Ursache ist. Geht es um Prävention, könnte man bei dieser Gruppe am besten ansetzen, wenn Familien mit einem gewissen Risiko für erblich bedingte Krebsarten in ein entsprechendes Vorsorgeprogramm aufgenommen werden. Da sind wir aber in Deutschland noch nicht optimal aufgestellt.

Forschender Kinderarzt

Forscher
 Stefan Pfister hat wesentlich dazu beigetragen, die Diagnose und die Therapie von Kindern mit Hirntumoren zu verbessern. Pfister wurde 1974 in Tübingen geboren. Seit 2012 ist er Abteilungsleiter am Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg. Seit 2014 hat er eine Professur für Kinderonkologie am Universitätsklinikum Heidelberg, 2016 wurde er Direktor des Präklinischen Programms am Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ).

Musiker
 Pfister ist Mitbegründer des Tübinger Saxophon-Ensembles – gut ein Dutzend Musiker spielt dort zusammen, um zu beweisen, dass das Saxofon auch in die klassische Musik gehört.