Deutsche Identität, deutsche Leitkultur, Deutschsein: Mehr Kulturnation als Nationalkultur (Goethe-und-Schiller-Denkmal vor dem Hoftheater in Weimar). Foto: dpa

Was macht die gefühlte Identität der Bundesbürger am stärksten aus? Das Deutschsein nennt nur ein knappes Drittel. Gleichzeitig findet die Mehrheit, dass Deutschsein etwas Positives ist. Doch was ist Deutschsein eigentlich?

Stuttgart - Was macht die gefühlte Identität der Bundesbürger am stärksten aus? Das Deutschsein nennt nur ein knappes Drittel. Gleichzeitig findet die Mehrheit, dass Deutschsein etwas Positives ist. Der Soziologe Hans-Georg Soeffner, emeritierter Professor an der Universität Konstanz, über deutsche Identität, Leitkultur und Ängste vor dem Fremden.

Herr Professor Soeffner, einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstitut YouGov zufolge verbinden 61 Prozent der Bundesbürger mit „Deutschsein“ etwas Positives. Kehrt der Nationalstolz zurück?
Die Zahlen überraschen mich nicht. Sie passen gut in die Forschung, die wir gemacht haben. Deutschland ist eine offene und plurale Gesellschaft. In solchen Gesellschaften ist es relativ schwierig, wenn man keine durchgehende Tradition hat, sich mit einem Land zu identifizieren. Hinzu kommt in Deutschland der große Traditionsbruch mit den deutschen Verbrechen im Dritten Reich, dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit.
Heißt das, bei anderen europäischen Nationen ist das anders?
In Frankreich oder Großbritannien versteht man sich als große Nation und mit einer ungebrochenen Geschichte und einer Tradition, die durchgehend eine Identifikationslinie beinhaltet. Wenn das in Deutschland auch so wäre, wären solche Zahlen verwunderlich. Aber wir haben nun mal diesen großen Traditionsbruch.
Und trotzdem gibt es wieder dieses Gefühl hier zu Lande: Wir sind stolz auf Deutschland.
Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) hat 2014 Rückkehrer aus dem Ausland befragt: Viele der Deutschen, die stolz sind Deutsche zu sein und zurückkehren, sind es deswegen, weil sie Verfassungspatrioten sind. Sie finden das Land, in dem man seine eigenen Vorstellungen umsetzen kann einfach schön. Dabei berufen sie sich auf die Verfassung. Das hat mit Nationalstolz im klassischen Sinn nichts zu tun.
Bevorzugen die Deutschen mehrheitlich die demokratisch-freiheitlichen Werte ohne national oder nationalistisch sein zu wollen?
Richtig. Man schätzt sie. Vor allem, wenn man aus dem Ausland zurückkehrt und Deutschland als ein Land wahrnimmt, das seinen Bürgern einen großen Freiheitsspielraum gibt. Das gilt nicht für viele andere Länder. Das wird vielen erst im Nachhinein klar. Für diejenigen, die reisen, ist das eine Art Lebensgefühl, das sich nicht mit dem Begriff Nationalismus umschreiben lässt.
Nation ist in der deutschen Geschichte nicht gerade verbunden mit Freiheit und Demokratie.
Auch das ist richtig. Wir sind eine verspätete Nation. Der deutsche Nationalstaat ist erst 1871 zustande gekommen. Was davor war, war eine Kulturnation. Die 1848-Revolutionäre und Brüder Grimm, wenn die von Deutschland sprechen, meinen sie den Kulturraum, der die Schweiz und Österreich miteinbezieht. Das bezieht sich auf Sprache, Kunst und Literatur. Insofern gab es tatsächlich eine Art Nationalstolz ohne Nation.
Und dieser Nationalstolz in einer realpolitischen Nation hat sich nach der Reichsgründung 1871 dramatisch entwickelt. Was schließlich in zwei Kriegen mündete.
Der sogenannte Nationalstolz entwickelte sich spät, aber umso massiver. Nicht nur durch die verlorenen Kriege ist er zunichte gemacht worden, sondern vor allem durch die nationalsozialistischen Verbrechen. Auch andere Nationen haben Kriege verloren wie beispielsweise Frankreich. Aber diese Verbindung von Niederlage und nationalen Verbrechen, mit denen man sich nicht identifizieren wollte, hat dazu geführt, dass wir einen moralischen Imperativ, ein Bewusstsein der Nie-wieder-Kultur, des Nie-wieder-Nationalsozialismus, des Nie-wieder-Holocaust, der Nie-wieder-Verfolgung von Minderheiten entwickelt haben.