Seit Jahresanfang kommen 50 Prozent mehr Menschen zu den Tafeln. Foto: dpa/Andreas Arnold

Immer mehr Menschen nehmen die Tafeln in Anspruch, weil sie sonst nichts zu essen hätten. Der Vorsitzende Jochen Brühl befürchtet angesichts der Armut eine gesellschaftliche Zerreißprobe.

Jochen Brühl hat einst die Tafel in Ludwigsburg gegründet, mittlerweile ist er Vorsitzender des Dachverbands. Wie er die Lage der Tafeln bundesweit einschätzt, was er sich von der Politik erwartet und was er noch mit der Barockstadt verbindet, erzählt er im Interview.

Herr Brühl, für viele Menschen in Deutschland ist Weihnachten nicht unbedingt ein Grund zur Freude. Das sehen Sie sicherlich am Zulauf, den die Tafeln zuletzt erfahren haben.

Weihnachten hat immer zwei Seiten. Auf der einen ist es das Fest der Familie, des Zusammenseins, des Genießens. Und das ist für viele Menschen, die zu den Tafeln kommen, eine Riesenherausforderung und Belastung. Weil sie an vielen dieser Dinge, die für andere ganz normal sind – ein festlicher Braten, Geschenke –, nicht partizipieren können. Die einen freuen sich aufs Fest, gehen zum Weihnachtsmarkt. Für die anderen ist ein Weihnachtsmarkt ein Graus, weil die Kinder Riesenrad fahren wollen, sich die Eltern aber nicht mal eine rote Wurst leisten können. Das zeigt, dass ein großer Riss durch unsere Gesellschaft geht, weil es Menschen gibt, die einfach abgehängt sind.

Das Problem, dass Leute wenig Geld haben, hat sich also in den vergangenen Monaten verschärft.

Viele wissen gar nicht mehr: Heize ich oder esse ich, wie komme ich über die Runden? Unser Angebot nehmen inzwischen immer mehr Menschen an, die bisher alles knapp geschafft und selbst hinbekommen haben. Sie merken jetzt aber, dass es aufgrund der Preissteigerungen einfach nicht mehr reicht.

Kommen die Tafeln an ihre Belastungsgrenze?

Ja, das kann man bei den Helferinnen und Helfern schon so sagen. Wir sind seit Beginn der Coronapandemie in einer Art Dauerkrisenmodus. Im Lockdown wurden zunächst 400 Tafeln geschlossen, die hat man dann relativ schnell wieder geöffnet. Als die Pandemie dann langsam abgeklungen ist, kam der furchtbare Angriffskrieg auf die Ukraine. Das hat eine neue Dimension, weil die Helferinnen und Helfer ja selbst von Inflation und Preissteigerungen betroffen sind. Das Dritte ist: Die Tafeln selbst sind von den Kostensteigerungen ja auch betroffen. Und das führt letztlich dazu, dass die Helfer am Limit und darüber hinaus sind.

Die Tafeln sind ja nicht nur eine Essensausgabestelle.

Wenn müde Helfende auf traumatisierte Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine treffen, dann kann man sich vorstellen, was für ein Druck herrscht, über die eigentliche Aufgabe hinaus. Viele Menschen, die zu uns kommen, sind verzweifelt. Sie brauchen jemanden, der zuhört, versucht, die Sorgen zu nehmen, und hilft, Lösungen zu finden.

Ehrenamtliche werden überall gesucht, die Tafel ist da sicher keine Ausnahme.

Wir merken derzeit, dass das Ehrenamt an Grenzen kommt. Ehrenamt kann nicht kompensieren, was eigentlich staatliche Verantwortlichkeit ist. Und Ehrenamt setzt Zeit voraus. An diesem Thema kann man jetzt einiges durchexerzieren.

Nur zu . . .

Wenn wir über höhere Lebensarbeitszeit debattieren, die an der einen oder anderen Stelle von der Politik gefordert wird, dann muss man natürlich fragen: Was heißt das überhaupt für das Ehrenamt? Was heißt es denn, wenn alle bis 70 arbeiten? Aus meiner Sicht müssen wir kreative Möglichkeiten finden, zivilgesellschaftliches Engagement zu fördern. Dazu müssen wir Zeitfenster öffnen, damit sich Menschen auch während des Berufs, während des Studiums ehrenamtlich betätigen können. Und da braucht es eine Debatte, was das für den Gesetzgeber und für die Arbeitgeber bedeutet.

Übernehmen die Tafeln in Deutschland zunehmend Aufgaben, die eigentlich die Politik anpacken müsste?

Allein, dass Sie die Frage stellen, zeigt ja, dass wir vieles richtig machen. Es zeigt sich, dass sich eine Gesellschaft nicht auf bürgerschaftlichem Engagement ausruhen kann. Wir halten der Politik und der Gesellschaft – uns allen – den Spiegel vor und sagen: Es ist nicht unsere Aufgabe, Menschen zu versorgen, wir können sie ‚nur’ unterstützen. Allein, dass es Tafeln in Deutschland gibt, da würde ich mich als Politik und Gesellschaft fragen: Was können wir eigentlich tun, damit diese Einrichtung nicht mehr so viele Menschen benötigen? Zumal seit Anfang des Jahres 50 Prozent mehr Menschen zu den Tafeln kommen.

Hilft die Einführung des Bürgergelds?

Ich glaube, das ist ein erster Schritt. Wir dürfen aber nicht erwarten, dass sich die Situation ab Januar entspannt, weil die Menschen rund 50 Euro mehr im Portemonnaie haben. Damit können sie nicht mal die Inflation ausgleichen. Wir haben schon vor einigen Jahren davor gewarnt, dass man auch das Thema Altersarmut nicht vergessen darf. Das geht in den ganzen Diskussionen gerade unter, aber viele Menschen haben nicht die Möglichkeit, privat vorzusorgen. Da rollt einiges auf uns zu.

Wenn Sie sich als Vorsitzender der Tafel Deutschland zu Weihnachten etwas wünschen dürften, was wäre das?

Zusammen mit anderen Sozialverbänden haben wir Bundeskanzler Olaf Scholz mehrfach um ein Gespräch über die derzeitige Situation gebeten. Da warten wir noch auf eine Einladung. Und dann wünsche ich mir, dass Politik und Gesellschaft die Menschen, die oft vergessen werden, so in den Blick nehmen und überlegen, was man tun kann, dass die auch ein Weihnachtsfest ohne Sorgen erleben können.

Aus verschiedenen Lagern kommt an dieser Stelle gerne das Argument der sozialen Hängematte.

Etwa drei Viertel derjenigen, die Grundsicherung erhalten, arbeiten eigentlich. Sie verdienen aber so wenig, dass sie aufstocken müssen. Armut gegen Armut auszuspielen, damit müssen wir aufhören, sondern den Menschen wieder sehen. Die allerallermeisten möchten arbeiten und möchten ein gutes Leben haben. Meiner Meinung nach brauchen wir eine soziale Zeitenwende und ein neues Verständnis von Mitmenschlichkeit. Und das fängt in der Politik an und darf in der Gesellschaft nicht aufhören.

An vielen Stellen nimmt sich der Einzelne aber wichtiger als das Miteinander – oder nicht?

Bei allem Klagen und Zetern, bei allem, was Leute in unserer Gesellschaft kritisieren: Dass sich mehr als 60 000 Menschen jeden Tag bei den Tafeln engagieren, ist doch schon ein unglaubliches Zeichen. Und da können sich einige eine Scheibe abschneiden.

In der Weihnachtszeit sind diejenigen, die viel haben, ja in der Regel etwas großzügiger mit Spenden. Merken Sie das auch?

Zunächst einmal stellen wir fest, dass die Lebensmittelspenden insgesamt zurückgehen, weil Unternehmen durch die Digitalisierung neue Lebensmittel anders ordern. Das ist aus Ressourcensicht gut, aber es gibt weiterhin Lebensmittelüberschüsse, die uns als Tafeln nicht erreichen. Aber natürlich spüren wir die höhere Spendenbereitschaft zu dieser Zeit im Jahr. Viele zeigen sich mit Geld- oder Lebensmittelspenden solidarisch und unterstützen uns. Das ist sehr wichtig für uns, und ich hoffe, dass es den Winter über andauert. Deshalb mein Appell: Rufen Sie die örtliche Tafel an, fragen Sie, wie Sie helfen können. Kann ich ehrenamtlich tätig sein, braucht ihr Lebensmittel, oder kann ich euch helfen mit Geld für die höheren Energiekosten?

Was wird aus Ihrer Sicht am dringendsten benötigt?

Haltbare Lebensmittel. Wir hatten die Idee des umgekehrten Adventskalenders. Statt etwas aus dem eigenen Adventskalender zu nehmen, legt man etwas in eine Kiste, um diese Lebensmittel dann an Menschen, die sie brauchen, weiterzugeben. Das kann man auch über das Jahr hinaus machen – nicht nur in der Adventszeit.

Wer braucht denn besonders Unterstützung?

Das geht quer durch die Gesellschaft: Rentnerinnen und Rentner, Alleinerziehende, Familien mit vielen Kindern, Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, und natürlich die geflüchteten Menschen.

Ist das in einem reichen Bundesland wie Baden-Württemberg anders als im Rest der Republik?

Nein, auch in Baden-Württemberg gibt es Menschen, bei denen das Geld nicht reicht. Da arbeitet keiner in der Familie bei Porsche, Bosch oder Daimler. Wenn man in einer reichen Stadt arm ist, ist man vielleicht sogar besonders ausgegrenzt. Sie gehen dann nicht auf den Weihnachtsmarkt in Ludwigsburg, da ist Scham ein großes Thema. Armut macht häufig auch einsam: Man schämt sich, wie man wohnt, man geht nicht mal schnell einen Cappuccino oder ein Bier trinken, weil man Angst hat, dass man auch mal eine Runde ausgeben muss oder sich erklären muss, dass dafür das Geld einfach nicht da ist. Für Kinder ist das besonders schwierig.

Daran können die Tafeln aber wiederum nichts ändern.

Tafeln sind Orte der Begegnung, wo eine Hartz-IV-Empfängerin mit der ehemaligen Grundschulrektorin Gemüse putzt – und Menschen auch als Menschen wahrgenommen und nicht nur auf ihre Not reduziert werden. Es gibt Tafeln, die Mittagstische oder Kaffeetrinken anbieten. Insofern stimmt das nicht ganz. Wir erleben oft: Wenn die Scham, zu uns zu kommen, erst mal überwunden ist, ist das für viele eine Erleichterung und eine Möglichkeit zu Kontakt. Sie müssen ihre Armut nicht mehr verstecken.

Sie haben Ludwigsburg schon angesprochen. Welche Erinnerungen haben Sie denn noch an Ihre Zeit dort?

Ich bin regelmäßig da, mein Herz schlägt noch ein bisschen für Ludwigsburg. Ich mag die Stadt, ich mag das Schloss, ich mag die Leute. Ich habe da meine ersten Schritte bei der Tafel gemacht, das bleibt natürlich. Ich spreche zwar kein Schwäbisch, obwohl ich da 20 Jahre gelebt habe, aber Ludwigsburg ist so was wie meine zweite Heimat.

Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie die Tafel in Ludwigsburg gegründet haben?

Kurz nach dem Studium habe ich bei der Stiftung Karlshöhe angefangen. Ich sollte auf einer Veranstaltung ein Protokoll für meine damalige Chefin schreiben. Die Gründung der Tafel war eigentlich gescheitert. Michael Alt, einer meiner Förderer, der Vorsitzender werden sollte, hatte sich einen ‚Sozialmenschen’ wie mich an seiner Seite gewünscht. Als ich Protokoll schrieb, sagte jemand, man habe sich auf Jochen Brühl verständigt. Ich habe gedacht: Den Namen kenne ich, und den Kopf gehoben. Alle grinsten mich an. Ab da war ich Tafelaner.

Und davor hatten Sie überhaupt nichts mit dem Verein zu tun?

Nein, ich kam wie die Jungfrau zum Kinde.

Dann sind Sie ja ein gutes Vorbild für Menschen, die sich sozial engagieren möchten.

Ich wollte nie Funktionär oder so was werden. Für mich geht es darum, dass ich ein Teil dieser Bewegung bin – einer von 60 000.

Über die Karlshöhe zur Tafel

Person
 Jochen Brühl (Jahrgang 1966) ist in Altena/Westfalen geboren. Er hat soziale Arbeit studiert, ist Diakon und im Thema Fundraising ausgebildet. Von 1996 bis 2003 hat er bei der Karlshöhe in Ludwigsburg seine ersten beruflichen Schritte getan und im Zuge dessen 1999 in der Barockstadt die örtliche Tafel gegründet. Für diese war er anschließend 13 Jahre lang tätig – als zweiter Vorsitzender und Geschäftsführer. Seit 2005 ist er auch im Dachverband tätig, dem er mittlerweile seit neun Jahren vorsteht. Außerdem leitet er das Fundraising bei dem CVJM Deutschland und der Hochschule Kassel. Jochen Brühl lebt in Essen.

Organisation
  Zum Verein gehören mehr als 960 Tafeln in ganz Deutschland, die im Jahr rund 265 000 Tonnen Lebensmittel retten, die nicht mehr verkauft und an Bedürftige ausgeben werden. Die Tafel gibt an, dass sie mehr als zwei Millionen Menschen versorgt, davon etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche.