Das von Jürgen Haller entworfene Haus Rothenbach steht in Schwarzenberg im Bregenzerwald. Der Bau mit raffinierter Fensteranordnung gehört zu den Häusern des Jahres 2021. Foto: Albrecht Imanuel Schnabel /Jürgen Haller Architektur

In Vorarlberg weiß man nicht, was schöner ist: die Natur oder die Architektur. Das hat auch politische Gründe. Was die österreichischen Nachbarn beim Bauen einfach besser machen.

Kann Architektur glücklich machen? Ja, und wie. Wer sich von der positiven Ausstrahlung gelungener Architektur überzeugen will, sollte mal ein paar Tage im Bregenzerwald verbringen. Diese wunderschön hingetupfte Urlaubsregion im österreichischen Bundesland Vorarlberg ist bekannt für ein seltsames Phänomen: dass nämlich enthusiasmierte Architekturfreundinnen und -freunde in Scharen mit offenem Mund die Gegend zwischen Bodensee und Arlberggebiet erkunden und sich für ihre eigene Arbeit, sei es auf der Schwäbischen Alb oder im Schwarzwald, inspirieren lassen.

 

Heimisches Holz

Wo man hinblickt, man staunt gleichermaßen über die Dichte an architektonisch gelungenen privaten Wohnhäusern und öffentlichen Bauten mit ihren klaren Linien, Schindelfassaden und dem Einsatz heimischen Holzes. Sei es beim Anblick eines hölzernen Flachdachbaus mit Blick auf den Bodensee von Berktold Weber Architekten, sei es bei der Neuinterpretation eines Kreuzgiebel-Gehöfts in Weiler mit Rundschindeln und kreisrunden Fenstern von Innauer Matt Architekten, beide mit dem Preis Häuser des Jahres ausgezeichnet.

Der Einhof als Vorbild

Der Bezug zur Historie ist selbst für Laien offensichtlich, denn das Vorbild für die typische Vorarlberger Bauweise ist das Bregenzerwälderhaus, das seit dem 15. Jahrhundert in der ländlichen Region vorrangig gebaut wurde. Dieser Haustypus – ein Einhof – versammelt in einem einheitlichen Baukörper die Wohn- und Schlafräume sowie die Funktionen Viehhaltung, Vorratslagerung sowie die Aufbewahrung aller bäuerlichen Geräte.

Modell für alpine Baukultur

Um zu verstehen, warum der Bregenzerwald zur Modellregion für eindrucksvolle alpine Baukultur geworden ist, muss man sich mit Jürgen Haller in Mellau auf einen Kaffee treffen, und zwar am besten in dem von ihm entworfenen Doppelgebäude, dem Apartmenthaus Tempel 74, das auch sein Architekturbüro beherbergt. Haller ist ein bekannter Baumeister, ein gebürtiger Mellauer zudem. Tempel 74 hat viele Preise erhalten, darunter den German Design Award 2021, den Vorarlberger Holzbaupreis sowie den Staatspreis Architektur, weil die Jury Hallers Konzept als beispielhaft für nachhaltiges Bauen im Tourismus gewürdigt hat.

Originalgetreuer Wiederaufbau

Die Neubauten verbinden gekonnt Tradition und Moderne. Haus A ist der originalgetreue Wiederaufbau eines alten Wälderhauses – mit typischen Kasten- und Rautenfenstern, Fensterläden und einer Fassade aus Holzschindeln. Haus B interpretiert die traditionelle Bregenzwälder Baukultur in moderner Form. Es hat große, asymmetrisch angeordnete Fenster und eine vorgehängte Holzfassade mit offenen und geschlossenen Flächen. Verbunden sind beide Häuser über eine Tiefgarage und das Sockelgeschoss, in dem sich ein gemeinsamer Aufenthaltsraum befindet. Der überdachte Außenbereich vor der Stube öffnet sich zum Dorfplatz mit Brunnen. So einfach geht Architektur.

Der Architekt als Landschaftspfleger

Oder auch nicht. „Ein Architekt sollte auch Landschaftspfleger sein. Er trägt eine große Verantwortung für den Lebensraum, in dem er baut“, sagt Jürgen Haller und erklärt voller Leidenschaft, weshalb in seiner Heimat das Bauen oft mehr als nur ein lukratives Geschäft für Investoren ist. „Die im Bregenzerwald seit Jahrzehnten gelebte Naturverbundenheit spiegelt sich im Umbau in der Wahl der Materialien sowie in der Entwicklung der Räume und Nachnutzung wider“, sagt Haller.

Mit der lokalen Wertschöpfungskette im Blick setzt Haller wie so viele seiner Kolleginnen und Kollegen auf Materialien aus der Region und beauftragt möglichst heimische Handwerker. Zu Hallers Visitenkarten gehören etwa ein der Eindachhaus-Tradition verpflichtetes Einfamilienhaus in Schwarzenberg und das dortige Feuerwehrhaus, bei dem das verbaute Holz aus dem eigenen Gemeindewald stammt und an dem ausschließlich Handwerker aus der näheren Umgebung arbeiteten.

Überall Leute vom Fach

Dass im Bregenzerwald die anderswo so beliebten Toskanahäuser nicht das Landschaftsbild stören, erklärt sich aus dem Umstand, dass schon beim Genehmigungsverfahren für ein Bauprojekt neben der Verwaltung auch Leute mit Sachkenntnis etwas zu sagen haben. „In der Regel sind drei Personen vom Fach im Gestaltungsbeirat, meist handelt es sich um Architekten“, sagt Haller. „Dadurch entsteht eine Vielfalt, denn der Gestaltungsbeirat erstellt unabhängige Empfehlungen im Zuge konkreter Planungsvorhaben, um die Baubehörde in ihrem Bemühen zu unterstützen, die ortsbauliche und architektonische Qualität des Bauens zu erhalten.“

Ansehnliche Supermärkte

Ein weiterer wichtiger Punkt sind die Anreize zum nachhaltigen Bauen mit Materialien aus der Region. „Ein kommunaler Gebäudeausweis steuert über ein Punktesystem das Bauen im öffentlichen Raum“, sagt Jürgen Haller. Wer beim Neubau oder bei der Generalsanierung von kommunalen Gebäuden eine Förderung vom Land erhalten will, sollte in Sachen Energie und Ökologie kein Ignorant sein, ansonsten wird es teurer. Auch deswegen ist die Holzbauweise in Vorarlberg selbst bei Supermarktketten und Feuerwehrhäusern mittlerweile Standard.

Begegnungen auf Augenhöhe

Und noch etwas macht den Unterschied: die Wertschätzung des lokalen Handwerks und das tolle Zusammenspiel von Bauherren, Handwerkern und Architekten. Das bestätigt auch Hallers Kollege Markus Innauer, der sein Architekturbüro mit Sven Matt in Bezau führt und für seine Kindergärten, Strandbäder und Häuser ebenfalls Auszeichnungen erhalten hat: „Seit Generationen ist es so, dass das Handwerk und die Bauherrenschaft einander auf Augenhöhe begegnen.“

Peter Zumthors Werkraum

Zu diesem Zweck wurde 1999 der „Werkraum Bregenzerwald“ zur Förderung von Handwerk und Baukultur gegründet, organisiert ist er in einem Verein mit einer von Architekt Peter Zumthor entworfenen Geschäftsstelle in Andelsbuch, die mit ihrem strengen Baustil besuchenswert ist.

Der Verein wirkt nach außen mit Ausstellungen und Wettbewerben, nach innen mit Entwicklungsarbeit und Nachwuchspflege. Das zeigt Wirkung. Die Handwerker erhalten eine große Wertschätzung, sie sind hervorragend ausgebildet und genießen einen beneidenswert guten Ruf.

Kaum Landflucht

Die beruflichen Perspektiven spornen junge Leute an. Nachwuchsproblemen im Handwerk, wie man sie in Deutschland täglich beklagt, wird im Bregenzerwald mit Initiativen wie der Werkraum-Schule entgegengewirkt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Menschen ihre Heimat nicht verlassen. „Landflucht existiert im Grunde nur in Kleinstgemeinden“, sagt Jürgen Haller, „und viele kommen zurück in den Bregenzerwald.“

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