Der tunesische Ministerpräsident Youssef Chahed Foto: AFP

Dissens schon vor dem Gespräch. Die Kanzlerin will ihren tunesischen Kollegen in Berlin zu mehr Zusammenarbeit in der Flüchtlingspolitik bewegen. Doch der baut zu großen Erwartungen schon mal vor.

Berlin - Tunesiens Ministerpräsident Youssef Chahed hat vor einem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) deutsche Überlegungen zurückgewiesen, in seinem Land Flüchtlings-Auffanglager einzurichten. Tunesien sei eine sehr junge Demokratie, sagte Chahed der „Bild“-Zeitung (Dienstag). Er denke nicht, dass es im Land für Flüchtlingslager Kapazitäten gebe. „Es muss eine Lösung zusammen mit Libyen gefunden werden. Das ist der einzige Weg“, sagte er. Fehler seiner Behörden im Fall des aus Tunesien stammenden Berliner Attentäters Anis Amri bestritt der Regierungschef kategorisch.

Merkel empfängt Chahed am Mittag im Kanzleramt. Sie will ihn unter anderem zu einer besseren Zusammenarbeit bei der Rücknahme abgelehnter tunesischer Asylbewerber bewegen, besonders von islamistischen Gefährdern. Mit Blick auf Überlegungen für Flüchtlings-Auffanglager in Nordafrika hatte sie am Wochenende gesagt, man müsse „im gegenseitigen Respekt voreinander ruhig besprechen, welche Möglichkeiten da sind“.

Grüne und Linke warnten vor der Einrichtung von Auffanglagern in Nordafrika. „Angela Merkel darf mit Tunesien nicht den Fehler wiederholen, den sie im Umgang mit Erdogan gemacht hat, und durch einen schmutzigen Flüchtlingsdeal das Land von westlicher Kritik abschirmen“, sagte die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (Dienstag). Linkspartei-Chefin Katja Kipping mahnte: „Kanzlerin Merkel muss von jeglichen Plänen Abstand nehmen, in Tunesien Flüchtlingslager einzurichten, und gegenüber dem tunesischen Premier auf die Einhaltung der Menschenrechte statt auf eine verschärfte Flüchtlingsabwehr drängen.“

Die Union hingegen sieht Tunesien in der Pflicht. „Natürlich muss sich Premierminister Chahed fragen lassen, was seine Regierung tut, damit nicht mehr so viele Tunesier ihr Land verlassen oder sich extrem radikalisieren“, sagte Stephan Mayer, innenpolitischer Sprecher von CDU und CSU im Bundestag, dem RND. Der CSU-Politiker fordert von Tunesien mehr Kooperationsbereitschaft bei der Rücknahme ausreisepflichtiger Tunesier aus Deutschland. Allerdings steht Chaheds Regierung bei diesem Thema auch unter dem Druck der eigenen Bevölkerung, die aus Angst vor Terror keine islamistischen Landsleute aus Europa zurücknehmen will.

Chahed wirbt um Anerkennung der Leistungen seines Landes

Chahed warb auch um Anerkennung der Leistungen seines Landes, das nach den Unruhen des sogenannten Arabischen Frühlings das einzige mit demokratischen Strukturen ist. „Wir sind gerade dabei, einen Krieg gegen Terror zu führen. Wir schützen die Südflanke Europas. Wir sind in einer sehr heiklen Lage“, sagte er im ZDF-„Morgenmagazin“.

Mit Blick auf die soziale Lage in seinem Land fügte er hinzu: „Es ist nicht nur eine Frage der Sicherheits-Architektur. Es geht um Bildung, es geht um Jugend, die jungen Menschen, die eine ganz geringe Beschäftigungschance haben.“ Und: „Da ist noch sehr viel Arbeit zu leisten, und da wollen wir mit ihrem Land zusammenarbeiten.“

Zum Terrorfall Anis Amri sagte Chahed der „Bild“-Zeitung: „Die tunesischen Behörden haben keine Fehler gemacht.“ Amri konnte aus Deutschland nicht abgeschoben werden, weil Tunesien zunächst keine Ersatzpapiere für ihn ausgestellt hatte. „Als Amri 2011 Tunesien verlassen hat, war er kein Terrorist, es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass er sich radikalisieren würde“, sagte Chahed. Tatsächlich weisen bisherige Erkenntnisse darauf hin, dass er sich erst später, möglicherweise im Gefängnis in Italien, radikalisiert hat.

In Berlin wollte Chahed Amris Tatort neben der Gedächtniskirche besuchen. Dort war der Tunesier mit einem gestohlenen Lastwagen auf einen Weihnachtsmarkt gerast. „Uns tut wahnsinnig leid, was in Berlin passiert ist“, sagte Chahed. „Das ging allen Tunesiern sehr nahe, denn wir haben 2015 selbst drei Terroranschläge erlebt.“