Mehr Gefühle, mehr Ausdauer, mehr Lebensgefahr: Sex auf Drogen ist besonders in der Schwulen-Community verbreitet. Eine neue Beratungsstelle an der Universitätsklinik Tübingen will über die Gefahren aufklären.
Berlin/Tübingen - Mit den großen Gefühlen kennt Prakash W. sich aus. „Die Leute fühlen sich wie im Himmel, wenn sie Sex auf diesen Drogen haben“, sagt der 39-Jährige. Mit „diesen Drogen“ meint er Substanzen wie Crystal Meth. Früher hat er sie selbst regelmäßig beim Geschlechtsverkehr genommen. Doch auf den Himmel kann die Hölle folgen. Sogenannter Chemsex ist ein Vabanquespiel.
Der Brite David Stuart prägte den Begriff 2001. Das Wort bezeichnet die Einnahme spezieller synthetischer Drogen beim Geschlechtsverkehr oder davor. Laut Holger Wicht von der Deutschen Aidshilfe erhoffen sich Chemsex-Nutzer mehr Erfüllung, mehr Durchhaltevermögen, mehr Selbstsicherheit. Doch das Verlangen nach Mehr kann schwierig werden. Auf der Suche nach intensiveren Gefühlen steigern Betroffene ihre Dosis häufig immer weiter. „Es gibt offenkundig immer mehr Männer, die durch ihren Substanzkonsum Probleme haben“, so Wicht. In Arztpraxen und Beratungseinrichtungen hätten Anfragen dazu stark zugenommen.
Missbrauch als Vergewaltigungsdroge
Neben Crystal Meth werden Wicht zufolge bei Chemsex etwa auch andere Amphetamine, das euphorisierende Mephedron sowie GHB und dessen Vorstufe GBL konsumiert. Letztere - in der Szene auch als „Liquid Ecstasy“ oder einfach „G“ (sprich: Dschi) bekannt - gelten wegen ihrer schwierigen Dosierung als besonders gefährlich und können Atemlähmungen und Kreislaufschocks verursachen. Bei Chemsex nehmen die Konsumenten die Substanzen freiwillig ein, weil sie sich eine stimulierende Wirkung erhoffen. GHB und GBL werden aber auch als Vergewaltigungsdroge missbraucht, wenn sie Leuten gegen deren Willen als K.-o.-Tropfen in Getränke gemischt werden.
Liebesakt mit Rauschzugabe: Auf diese Idee kamen Menschen bereits in der Antike. Doch im Gegensatz zu Sekt-Schwips und Vergnügungen zwischen Marihuana-Rauchschwaden können Amphetamine laut Anne Iking gravierendere Schäden verursachen: Sie machen schnell abhängig, putschen zu tagelangen Wachphasen auf, unterdrücken das Durstgefühl - „das kann schnell lebensbedrohlich werden“, sagt die Therapeutische Leiterin Sucht an der Salus Klinik in Hürth bei Köln.
An der Rehabilitationseinrichtung entstand 2015 das nach eigenen Angaben bundesweit einzige stationäre Behandlungskonzept speziell für Chemsex. „In der klassischen Suchthilfe finden sich die Männer kaum wieder, weil sie sich nicht als Süchtige definieren“, sagt Iking. In Hürth sind bis zu 15 Betroffene mit diagnostizierter Drogenabhängigkeit in Therapie. Diese zielt auf Abstinenz: Die gewohnte Allianz von Sex und Konsummittel soll aufgebrochen werden. Bis zu 26 Wochen dauert das in der Regel. Zum Vergleich: Alkoholkranke bleiben bei einer Erstbehandlung etwa 15 Wochen in der Suchtklinik.
Maximale Enthemmtheit
Die Chemsex-Patienten an der Salus Klinik sind Männer, die Sex mit Männern haben. Die Praktik ist vor allem bei Schwulen verbreitet. Es gebe auch Heterosexuelle, die Sex mit Substanzen schätzten, sagt Iking. Aber diese verabredeten sich seltener gezielt dazu als manche Homosexuelle. Iking vermutet, dass bei Schwulen mitunter Ausgrenzungserfahrungen oder gefühlter Attraktivitätsverlust beim Drogenkonsum eine Rolle spielen könnten.
Prakash W. bewegt sich selbst in der Schwulenszene und beschreibt die Attraktivität von Chemsex. „Sexualität hat hier einen hohen Stellen- und Identifikationswert und ist mit einem gewissen Leistungsdruck verbunden.“
Die maximale Enthemmtheit ist aber nicht nur Motivation, sondern bedingt auch die Gefahr von Chemsex: 60 Prozent von Ikings Patienten sind HIV-positiv, teils war die Infektion direkte Folge von Chemsex. Den Experten zufolge kann mit dem Drogenkonsum Kontrollverlust und ein laxer Umgang mit Kondomen einhergehen, das Risiko für eine Ansteckung mit sexuell übertragbaren Krankheiten steigt.
Laut Holger Wicht von der Aidshilfe gehören Chemsex-Praktizierende besonders zur Zielgruppe der sogenannten PrEP, der Prä-Expositions-Prophylaxe, einer relativ neuen Methode zur Vorbeugung einer Infektion mit dem Aids-Erreger HIV. Dabei nehmen HIV-negative Menschen ein Medikament ein, um sich vor einer Ansteckung mit HIV zu schützen.
Die Aidshilfe schätzt den Anteil homo- und bisexueller Männer, die Sex immer oder fast immer unter stimulierenden Substanzen haben, in größeren Städten auf bis zu 20 Prozent. Das queere Berliner Szenemagazin „Siegessäule“ schrieb in seiner Dezember-Ausgabe: „Man kann es ja ruhig mal aussprechen: Im Berliner Nachtleben läuft vielerorts ohne Drogen nichts und vor allem für etliche Schwule ist Substanzkonsum mittlerweile ein nicht unwesentlicher Bestandteil von gutem Sex.“
Nicht nur ein Phänomen von Metropolen
Die rot-rot-grüne Landesregierung von Berlin will in der Hauptstadt jetzt ein sogenanntes Drug-Checking ermöglichen, bei dem Konsumenten auf dem Schwarzmarkt erworbene Partydrogen legal auf Dosierung und Reinheit überprüfen lassen können. Die Idee hinter dieser Art der akzeptierenden Drogenarbeit: Wenn Konsumenten schon Drogen nehmen, dann sollen sie sich wenigstens informieren, um Risiken senken zu können.
Chemsex ist allerdings nicht nur ein Phänomen von Metropolen mit pulsierender Partykultur. Prakash W. führt inzwischen bundesweit Präventionsangebote für die Aidshilfe durch. Seiner Einschätzung nach ist das Verlangen nach mehr und mehr Kick beim Sex auch für Bewohner ländlicher Gegenden problematisch.
Nach Angaben der Universitätsklinik Tübingen gibt es im Südwesten Deutschlands etwa auf der Schwäbischen Alb und am Bodensee Schwerpunkte der Szene. Im Dezember hat die Klinik eine ambulante Sprechstunde eröffnet, die Betroffenen aus dem gesamten Großraum eine Anlaufstelle und anonymen Austausch bieten soll. Psychosen, Depressionen, Organschäden bis hin zur tödlichen Überdosis können dem Tübinger Suchtmediziner Carsten Käfer zufolge Folgen eines Konsums synthetischer Drogen sein.
Prakash W. hat nach jahrelanger kompletter Abstinenz inzwischen wieder gelegentlich Sex unter Drogen. Der Meditationslehrer bezeichnet sich als „kontrollierten Konsumenten“. Carsten Käfer hält das für einen Widerspruch in sich: „Ein kontrollierter Konsum ist nicht möglich. Das ist wie ein Tanz auf einem Vulkankrater.“