Mit der Datenbrille in die virtuelle Welt eintauchen. Foto: dpa

Zurzeit werden die Voraussetzungen geschaffen, dass auch Verbraucher virtuelle Welten betreten. Sie können spielen, einkaufen, reisen, arbeiten oder sich therapieren lassen, ohne an den Orten selbst zu sein.

Stuttgart - Eintauchen in die neue Welt: Die Technik - Brille und Kopfhörer aufgesetzt und den Sensoren-Stick in der Hand – und schon ist man zum Gladiatoren mutiert. Die riesige Arena öffnet sich, die Zuschauer jubeln. Der Blick durch die Brille auf die eigenen Arme zeigt, dass man in einer futuristischen Ausrüstung steckt, wie man sie aus Science-Fiction-Filmen à la „Iron Man“ kennt. Doch in die Arena muss man hinabspringen. Instinktiv versteift sich der eigene Körper, es wird flau im Magen. Es ist nur ein Spiel, aber die Gefahr fühlt sich absolut real an. Das Gefühl für die Zeit und den realen Raum, in dem man die Brille aufsetzte, hat sich verloren. Willkommen in der neuen, der virtuellen Realität, kurz VR genannt.

Das Gladiatorenspiel ist eines der ausgefeiltesten Programme für diese virtuelle Realität. Es gehört zu Sonys VR-Headset, das der japanische Konzern Mitte Oktober für seine Spielekonsole Playstation 4 in Europa auf den Markt brachte. Von ihr hat der Konzern bereits 40 Millionen Geräte verkauft. Die VR-Brille könnte vielen Verbrauchern zum ersten Mal in Kontakt mit virtueller Realität bringen, die die Unterhaltungsbranche und IT-Industrie zurzeit so elektrisiert wie zuletzt der Siegeszug des Smartphones. Noch in diesem Jahr dürfte nach Schätzungen der Beratungsfirma Deloitte mit VR-Hardware und VR-Inhalten in Deutschland 158 Millionen Euro umgesetzt werden. 2020 sollen es bereits eine Milliarde Euro sein. „Für eine neue Technologie ist dies ein auffallend starkes Wachstum“, heißt es. Weltweit soll der Umsatz laut den Marktforschern von IDC 2020 umgerechnet knapp 150 Milliarden Euro betragen.

Virtueller Einkaufsbummel

Aus dem Gefühl heraus zum Kauf verleiten: Die virtuelle Realität lässt den Traum von Verkäufern und Vertriebsmitarbeitern Wirklichkeit werden. Kunden sollen teure Produkte schon möglichst einfach vor dem Kauf erleben können. Audi bietet ihnen an, sich ein Auto virtuell ganz nach den persönlichen Vorlieben zu konfigurieren. Sie können das Fahrzeug aus allen Perspektiven auf sich wirken lassen und mit einem virtuellen Röntgenblick sogar das Innenleben bestaunen. Auch die Fahrt durch eine Innenstadt lässt sich simulieren, um zum Beispiel Sicherheitsfeatures zu demonstrieren. All das ist für den Händler platz- und kostensparend. Kein Wunder, dass Effizienz-Meister Ikea Kunden mit der „VR-Experience“ Planung und Rundgang virtuell anbietet. Mit den entsprechenden Handgeräten lassen sich sogar Schubladen oder der Kühlschrank öffnen. Die Karlsruher Firma Inreal Technologies bietet eine Software an, mit der ganze Wohnungen virtuell begangen und eingerichtet werden können. Auf diese Weise können Fußböden getauscht, das Licht zu verschiedenen Tageszeiten erprobt oder die Wohnung virtuell überflogen werden.

Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG erwartet, dass in den kommenden Jahren die virtuelle Realität Teil des Geschäftsmodells wird, um auf wenig Verkaufsfläche Kunden maßgeschneiderte Waren zu präsentieren. Später könnten Kunden in der virtuellen Welt vermessen, beraten und die Ware virtuell anprobiert werden.

Großes Potenzial im Berufsleben

KPMG analysierte für eine hauseigene Studie 400 Anwendungsfälle von virtueller Realität. Demnach hat die Technik nicht nur beim Marketing und Vertrieb, sondern auch bei der Wartung, Arbeitssicherheit und der Ausbildung großes Potenzial. Nicht nur Autobauer wie Daimler können bei der Produktentwicklung verstärkt mit virtuellen Prototypen arbeiten. Wagen ließen sich schneller, kostengünstiger und auch standortübergreifend produzieren. Die Aus- und Weiterbildung würde nicht nur realitätsnaher und abwechslungsreicher werden, sondern auch echte Übungen ersetzen, die sonst zu teuer oder zu gefährlich wären. Schon jetzt lernen Piloten in Flugsimulatoren. Mitarbeiter von Kernkraftwerken könnten Gefahrensituationen proben oder Feuerwehrleute virtuell Brände löschen.

Aber es ginge auch weniger gefährlich: Mit der geeigneten Soft- und Hardware ließen sich auch länderübergreifende Cyber-Konferenzen organisieren, bei denen sich die Teilnehmer im virtuellen Raum träfen, um zum Beispiel virtuelle Produkte zu modifizieren. Montagearbeiter lernten die Fertigung mit Brille und mit Sensoren bestückten Handschuhen. „VR-Anwendungen könnten bei Kostenersparnissen, Qualitätssteigerungen, bei der Ausbildung von Mitarbeitern oder reiseintensiven Tätigkeiten zukünftig eine wichtige Rolle spielen. Im Marketing und im Vertrieb sind sie bald nicht mehr wegzudenken“, sagt KPMG-Bereichsvorstand Angelika Huber-Straßer.

Die neue Realität

Die Reise mit Brillen, Kopfhörer und Handgeräten in virtuelle Welten ist erst der Anfang. Südkoreas Technik-Gigant Samsung baut einen kleinen Pavillon auf, wenn er Besucher auf die Möglichkeiten zukünftiger Reisen einstimmen will. Auf einem Drehstuhl richten sich die Besucher mit ihren Brillen in alle Himmelsrichtungen aus, um sich mit den Augen entlang einer Wüstenkarawane oder durch einen Gewürzmarkt in Kalkutta zu bewegen. Gerüche breiten sich dazu aus den Düsen aus, sie regulieren auch die Luftfeuchtigkeit. Die Nutzer tauchen noch tiefer in die virtuelle Welt ein, sie riechen Zimt und Curry, haben Schweißperlen auf der Stirn. Hersteller bieten mit Sensoren bestückte Handschuhe und Masken an, die die Haut reizen. Der Europa-Park in Rust lässt bereits auf seiner Achterbahn die Gäste mit VR-Brillen fahren, die die Fahrt virtuell mit einem Drachenflug kombinieren. Für den Fahrer fühlt sich das dennoch echt an.

Diesen Effekt macht sich auch die Medizin zunutze. Die Uni Regensburg nutzt die virtuelle Realität, um psychische Erkrankungen zu behandeln. Die Forscher konfrontieren die Probanden zum Beispiel mit virtuellen Vogelspinnen, um ihnen durch die Konfrontation die Angst vor Spinnen zu nehmen. „Das ist erstaunlich, wie gut das funktioniert“, sagt Professor Andreas Mühlberger. Sein Team will die virtuelle Realität als Therapiemethode weiter untersuchen, vielleicht könnte sie bei Suchtstörungen ähnlich gut wirken. „Es ist verblüffend, welche Emotionen VR auslösen kann – obwohl die Menschen wissen, dass die Situation nicht real ist.“