Der Mensch überwacht mit – ein Polizist hat alle Bildschirme auf dem Schirm. Foto: dpa

In Mannheim werden künftig zentrale Plätze und Straßen mit Videogeräten überwacht, 76 an der Zahl. Eine europaweit neuartige Software erkennt offenbar unnatürliche Bewegungen von Menschen.

Mannheim - Ein junger Mann geht auf einer Straße in Mannheim rasch auf einen Passanten zu und rempelt ihn rüde an – der wiederum wehrt sich sofort und tritt den Angreifer brutal in den Bauch, bis dieser zu Boden geht. Auf einem großen Bildschirm im Führungs- und Lagezentrum der Mannheimer Polizei werden die beiden Personen plötzlich von einem roten Rechteck umrandet, denn eine Kamera mit neuer Software erkennt aufgrund ihrer eingepflegten Algorithmen, dass es sich um unnatürliche Bewegungen handelt. Der diensthabende Polizist prüft die Situation nun selbst und schickt eines der drei Interventionsteams los. In spätestens drei Minuten sollen sie am Tatort sein – und möglichst beide Männer noch antreffen.

So wie bei diesem Versuch soll künftig die intelligente Videoüberwachung in Mannheim funktionieren. Am Montag ging sie am Bahnhof in Betrieb, am Paradeplatz werden die Kameras noch im Dezember eingeschaltet; in der Breiten Straße folgen die Geräte im kommenden Jahr, am Alten Messplatz 2020. Am Ende könnten es bis zu 76 Kameras werden.

Spezialisiert auf das Erkennen unnatürlicher Bewegungen

Die Software hat das Karlsruher Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung auf Wunsch der Mannheimer Polizei und der Stadtverwaltung entwickelt. Die Behörden lassen sich die neue Überwachung 1,6 Millionen Euro kosten. Die Computer können Menschen von sich bewegenden Objekten oder Tieren unterscheiden. Und sie hinterlegen bei jeder Person automatisch ein elektronisches Skelett mit Rumpf und Gliedmaßen. Machen Arme oder Beine unnatürliche Bewegungen, meldet dies die Software. „Am Ende aber entscheidet ein Polizist, also der Mensch, ob ein Einsatz notwendig ist“, betont Thomas Köber, der Mannheimer Polizeipräsident.

Allerdings steht die Software noch ganz am Anfang. Bisher sei sie nur in der „Laborkünstlichkeit“ getestet worden, sagt Markus Müller vom Fraunhofer-Institut. Alle sind deshalb unglaublich gespannt, wie gut die Kameras am Ende tatsächlich funktionieren werden. Auf jeden Fall müsse das System erst lernen, nicht alles werde auf Anhieb klappen, sagt auch der Innenminister Thomas Strobl, der zur Einweihung nach Mannheim gekommen ist. Sprich: einen unauffälligen Taschendiebstahl wird diese Überwachungstechnik vorerst nicht erkennen. Fünf Jahre dauert die Pilotphase. Bis die Software so weit ist, werden an den zwei Bildschirm-Arbeitsplätzen noch leibhaftige Polizisten sitzen und die Kamerabilder auch auf ganz normale Weise verfolgen und nach Auffälligkeiten abscannen.

Entlastung für die Polizisten

Thomas Strobl hegt große Pläne mit diesem System. Auch wenn es kein Allheilmittel sei, so könne es doch die Straßen- und Drogenkriminalität deutlich verringern und am Ende hoffentlich im Automatikmodus die Polizei entlasten. Großen Wert habe man auf den Schutz der Persönlichkeitsrechte der Bürger gelegt, so Strobl; tatsächlich setzt das Grundgesetz bei der Videoüberwachung enge Grenzen. So wurde das technische System komplett isoliert verlegt und hat keinen Internetanschluss; es sei deshalb nicht zu knacken. Eine Gesichtserkennung ist nicht vorgesehen; die Software kann also keine Menschen identifizieren, sondern nur verdächtige Rechtecke. Die Kameras verpixeln automatisch private Flächen auf den Bildern, also etwa Wohnungseingänge. Und die Bilder werden nach drei Tagen gelöscht; rechtlich erlaubt wäre sogar eine Speicherung von vier Wochen. „Unser System soll für jeden transparent sein“, sagt Thomas Köber.

Ausgewählt für die Pilotphase wurden vier Mannheimer Plätze und Straßen, an denen die Kriminalität besonders hoch ist. Oder wieder ist, muss man besser sagen. Denn die Straßenkriminalität hatte im Jahr 2003 in der gesamten Innenstadt ihren Höhepunkt erlebt mit 2093 Fällen. Danach waren die Zahlen bis 2014 gesunken oder stabil geblieben, bis 2016 gingen sie wieder nach oben und hatten das einstige Spitzenniveau fast wieder erreicht. Bei der Drogenkriminalität sieht es ganz ähnlich aus, allerdings hatte die Fallzahl 2016 den bisherigen Höhepunkt des Jahres 2000 mit 512 Fällen überschritten. Auf den künftig überwachten Plätzen liegt die Kriminalität teilweise bis zu 20 Mal höher als im Durchschnitt Mannheims.

Auch insgesamt bleibt Mannheim eine der Städte in Baden-Württemberg mit der höchsten Kriminalitätsrate. Im Jahr 2017 lag die Zahl der Straftaten pro 100 000 Einwohner bei 11 448. Zum Vergleich: Stuttgart hat eine sogenannte Häufigkeitszahl von 8917. Nur in Freiburg liegt diese im Südwesten noch höher mit 12 237. Allerdings ist die Kriminalität auch in Mannheim im vergangenen Jahr gesunken, zum Beispiel bei der Straßenkriminalität um fast zehn Prozent gegenüber 2016.

Erfahrungen zeigen offenbar: Kameras helfen bei der Aufklärung

Es gebe aber weiterhin viel zu viel Kriminalität in der Stadt, sagt der Polizeipräsident Thomas Köber; die Videoüberwachung sei deshalb nach wie vor gerechtfertigt. Er räumte allerdings ein, dass die Kameras vor allem bei der Drogenkriminalität oft lediglich zu einer Verlagerung führten. „Es ist trotzdem wichtig, dass an bestimmten Orten nicht mehr offen gehandelt wird“, so Köber. Das sei bei der letzten, noch konventionellen Überwachung in den Jahren 2001 bis 2007 am Bahnhof erreicht worden. Damals sank die Zahl der Delikte am Bahnhof um bis zu 70 Prozent.

Auch die Auswertung von 15 Videoüberwachungsprojekten in Deutschland durch das Bundeskriminalamt habe ergeben, dass Videotechnik dazu beitragen könne, Straftaten aufzuklären, potenzielle Straftäter abzuschrecken und die Sicherheit der Bevölkerung zu erhöhen, heißt es in der städtischen Entscheidungsvorlage. Tatsächlich sind auch die Mannheimer überwiegend für die Videoüberwachung. Laut dem Ersten Bürgermeister Christian Specht sehen in einer brandneuen Umfrage 85 Prozent der befragten Bürger die Kameras positiv.

In Stuttgart gibt es derzeit keine dauerhafte polizeiliche Überwachung mit Kameras. Allerdings wird geschätzt, dass in der Landeshauptstadt in Geschäften und Stadtbahnen bis zu 3000 Kameras installiert sind. Für Innenminister Strobl steht die technische Entwicklung auch erst am Anfang. Es liefen in Baden-Württemberg weitere digitale Projekte, etwa, wie man die Problemfelder Ruhestörung oder Vermüllung besser in den Griff bekommen könnte.