Saison-Opening beim VfB Stuttgart – mit vernebeltem Blick auf das, was kommt Foto: Baumann

Vielleicht dreht der VfB Stuttgart nur eine Ehrenrunde in der zweiten Liga – und kehrt gestärkt zurück ins Fußball-Oberhaus. Möglich aber auch, dass die Wiederauferstehung zur schweren Geburt wird. Die Neugier bei den Fans ist jedenfalls geweckt.

Stuttgart - Wer weiß, vielleicht ist der VfB nur mal falsch abgebogen. Kann ja sein, dass der Verein für Bewegungsspiele 1893 schon nach dieser Spielzeit den Weg zurück findet ins gelobte Land. An diesem Montag bittet die zweite Liga den Absteiger jedenfalls wieder zum Ball – nach 39 Jahren. Und wie es scheint, fluten die Glaubensbrüder der weiß-roten Schicksalsgemeinschaft die Mercedes-Benz-Arena wie zu ihren besten Tagen. Schätzungsweise 52 000 Zuschauer werden das neu formierte Team durchs erste Spiel gegen den FC St. Pauli peitschen – getrieben von der Hoffnung, die Saison-Arbeit in der Handwerks-Kammer des deutschen Fußballs möge nach nur einer Ehrenrunde wieder enden.

Den Schal als Willkommensgruß

Als wäre der Abstieg wie ein Naturereignis über sie gekommen, entrümpelten die Fans erstaunlich schnell den Strafraum ihrer Befindlichkeiten und ordneten die Passwege zur alten Liebe neu. Stolz meldet der VfB Stuttgart zum Saisonstart in der zweiten Liga einen Mitgliederrekord. 47 120 Sportsfreunde tragen inzwischen das Plastikkärtchen in der Tasche, das für 48 Euro im Jahr das Treue-Bekenntnis bestätigt. Seit dem Abstieg am 14. Mai strömten 1500 Neuzugänge in den größten baden-württembergischen Sportverein. Den VfB-Schal gab’s als Willkommensgruß umsonst. Dass sich nach dem Niedergang immerhin 1000 Enttäuschte vom Stolz der Region abwandten, bestätigt die PR-Abteilung für gute VfB-Nachrichten nur zögerlich. Die Kündigungen werden erst am Jahresende wirksam.

Die bildhübschen Hostessen in kurzen Röckchen, die seit Wochen allerorten um schriftliche Zuneigung für den Absteiger warben, haben ihren Job jedenfalls so gut gemacht, wie ihn die VfB-Fans fortan von einer Mannschaft erwarten, die – auf vielen Positionen neu formiert – noch den Zauber einer Wundertüte entfaltet.

Und nicht nur bei den VfB-Montagskickern, wo ehemalige Größen des Vereins ihre knackenden Gelenke beweglich halten, stößt der eine oder andere Name auf fragende Gesichter: „Marcin, wer? Kaminski?“ Rolf Geiger, der Alt-Internationale mit Wunderstürmer-Potenzial, zuckt ratlos mit den Achseln, wenn sie die Neuen buchstabieren: „Die meisten kenn ich net.“

Luhukay und die schwäbische Wertewelt

„Oh sch. . .“ hat Geiger, 81, nach dem Abstieg gerufen. Und die Hände überm Kopf zusammengeschlagen: „Dass ich das noch erleben muss.“ Doch inzwischen erwacht auch in ihm die Neugier auf das, was beim VfB neu entsteht. Den Trainer hält Geiger für „eine gute Wahl“. Wie andere auch. Als in der Stadt die eigentlich unbedeutende Nachricht die Runde machte, wonach Jos Luhukay im Trainingslager in Grassau das Frühstückbüffet erst freigab, als alle Spieler an den Tischen saßen, hellten sich viele Mienen auf. Die Aussicht darauf, dass der „kleine General“ aus den Niederlanden wichtige Teile der schwäbischen Wertewelt hoch hält, nährt die gelinde Hoffnung, dass sich Fleiß, Disziplin, Leistungsbereitschaft und Leidenschaft wieder zu identitätsstiftenden Merkmalen der Brustring-Familie entwickeln könnten.

Hätte, wäre, könnte. Noch hat der Konjunktiv Konjunktur, wenn sich die Fans ausmalen, wie sich die Zeitenwende bemerkbar machen wird. Rainer Vollmer, seit Jahrzehnten dem VfB verbunden, macht – wie viele andere auch – ein nachdenkliches Gesicht, wenn er von der Mannschaft spricht: „Da bin ich hin und her gerissen“, sagt der Fußball-Abteilungsleiter vom TSV Wolfschlugen, „vorne hilft womöglich nur der liebe Gott.“ Und der Bochumer Simon Terodde, den der VfB ebenso von einem Arbeitsplatzwechsel überzeugen konnte wie den Augsburger Flügelstürmer Tobias Werner. Von Spielart und Statur her erinnert Terodde an Mario Gomez – und an bessere Zeiten. „Aber auch der brauchte kluge Pässe und präzise Flanken“, sagt Vollmer, der sich die Tickets für den Kick gegen den FC Heidenheim schon gesichert hat. Er ahnt: „In der zweiten Liga kommst du mit Tiki-Taka nicht weit, da wird ordentlich gefeilt.“ Und er bilanziert: „Ich harre der Dinge, die da kommen.“

Das Interesse am VfB ist wieder größer

Auch Joachim Schmid hält sich mit Prognosen lieber zurück. „Ich kann mich gar nicht erinnern, wann der VfB zum letzten Mal einen positiven Saisonstart hingelegt hat“, sagt der Vorsitzende des größten offiziellen Fanclubs. Zurzeit zählen sich 1100 Fußball-Freunde zu den Rot-Weißen Schwaben Berkheim. Tendenz steigend. Seit dem Abstieg begrüßte er 80 neue Mitglieder – im Alter zwischen 16 und 25. „Das Interesse am VfB“, bestätigt Schmid, „ist wieder größer geworden.“ Von fünf Busfahrten seines Clubs zu den Auswärtsspielen in den kommenden Wochen sind vier schon rappelvoll. Ob es die Lust auf das Neue ist? Andere Stadien, andere Vereine, andere Fans? Der Club-Chef überlegt: „Schwer zu sagen.“

Klar ist, wer als Mitglied in einem der 425 offiziellen VfB-Fanclubs (17 550 Mitglieder) firmiert, genießt das eine oder andere Privileg. Es gibt ein paar Prozent Rabatt auf Fanartikel, man kommt leichter an Dauerkarten und an Tickets zu den Auswärtsspielen und wer will, verstärkt hüpfend und johlend den mächtigen VfB-Roar in der Cannstatter Kurve. Dort, wo regelmäßig 18 920 Fans ihren Göttern huldigen – mit tosenden Schlachtgesängen und aufwendigen Choreografien.

Platzhirsche dort sind die streng hierarchisch strukturierten Ultras von Commando Cannstatt, dicht gefolgt vom Schwabensturm. Ultras leben den Fußball nach eigenen Regeln, wider den Kommerz und in strenger Konkurrenz zu den gegnerischen Fans. Wer zu Saisonbeginn in der Fan-Karawane zum Stadion ganz vorne gehen will, hat sich hoch gedient, mit unzähligen Malstunden im Fahnenraum, mit Arbeitsdiensten im „Freiraum“, der Cannstatter Ultras-Kneipe, und mit Dauerpräsenz bei Heim- und Auswärtsspielen. Anders als unter Hooligans hält sich der Alkoholkonsum in Grenzen, und Gewalt zählt nicht zum Programm. Aber Siege zu feiern verstehen sie schon, und wenn ihnen die Gegner mit Hieben drohen, fällt ihnen meistens was dazu ein. Die Mercedes-Benz-Arena heißt noch Neckarstadion, und der Karlsruher SC ist so beliebt wie ein Bauchkrampf. Weshalb mancher Polizeiführer schon jetzt rote Flecken im Gesicht bekommt, wenn er ans Derby gegen die Sportkameraden aus Baden denkt. „Der Abstieg in die zweite Liga ist für unsere Arbeit nicht gerade eine Erleichterung“, sagte ein Beamter, der die Szene kennt.

Nicht immer sind die Ultras die bösen Buben. Als im letzten Bundesliga-Heimspiel gegen Mainz (1:3) das Unvermeidliche eigentlich schon geschehen war, kochten die Ultras zwar vor Wut, blieben aber auf ihren Plätzen. Stattdessen stürmten vermummte Randalierer aufs Spielfeld und rempelten Spieler an. Die meisten von ihnen wurden inzwischen mit Stadionverboten belegt.

Nicht von Zahlen blenden lassen

Dass sich ähnliche Szenen in der zweiten Liga wiederholen, ist eher auszuschließen. Ungemütlich könnte es aber werden, wenn die Mannschaft die Erwartungen schon früh enttäuscht. „Man darf sich nicht blenden lassen von den Verkaufszahlen vor dem Spiel gegen den FC St. Pauli“, sagt Oliver Schaal, der ehemalige Sprecher von Commando Cannstatt, „wenn die Mannschaft irgendwann auf Platz 13 stehen sollte, wird das nicht witzig.“ In der Mannschaft gebe es noch viele Baustellen, er gehe aktuell nicht davon aus, dass der VfB das Saisonziel erreiche.

Auch die Montagskicker schwanken zwischen Zuversicht und Skepsis. Ob er an die sofortige Rückkehr in die Bundesliga glaubt? Geiger seufzt: „Net arg! Jetzt müssen wir in Stuttgart halt alle auf die Zähne beißen.“ Denn auch die Blauen aus Degerloch sind abgestiegen, sie kämpfen um die Rückkehr in die dritte Liga. Geiger schickt Helmut „Fitus“ Fürther ins Tor, den Torjäger aus großen Kickers-Tagen. „Der kann nimmer so schnell laufen.“ Dann kicken sie. Und wer den alten Kämpen zuschaut, könnte meinen: Das mit dem Wiederaufstieg ist womöglich nur eine Frage der Zeit.