Enttäuschte Gesichter nach dem letzten Spiel gegen den SC Freiburg: Santiago Ascacibar (links) und Ozan Kabak. Foto: Pressefoto Baumann

Der VfB Stuttgart taumelt mal wieder am Abgrund – und schon der nächste Rückschlag könnte Folgen haben.

Stuttgart - Man mag es kaum glauben, aber doch: Es gibt in diesen Tagen auch noch gute Nachrichten vom VfB Stuttgart. Nachzulesen in der Kreisausgabe Traunstein der „Passauer Neuen Presse“: „Der VfB zerlegt Bayern im Finale 6:1.“ Das klingt gut.

Das Problem an der Sache: Es war nicht die Truppe, die der Verein für die Bundesliga gemeldet hat, die den Münchnern den Titel wegschnappte – sondern die U 12 beim Sparda-Bank-Hallenmasters in Traunreut, wo das Team am Ende im Konfettiregen gefeiert wurde. Schade eigentlich. Denn zu Hause in Bad Cannstatt ist weniger Konfetti. Und das ist noch untertrieben.

In Haus Nummer 109 ist die Stimmung – trotz Krisenerfahrung – eher frostig. Die Atmosphäre, nicht nur wegen der strengen Regentschaft von Clubboss Wolfgang Dietrich, angespannt – und geprägt von einer Angst, die viele, die dort arbeiten, schon kennen.

Vor rund drei Jahren war das Brustring-Team auf dem direkten Weg zum sicheren Klassenverbleib. Wenige Wochen später durften sich alle Beteiligten Zweitligist nennen und mussten – egal ob auf dem Rasen aktiv oder hinter einem Schreibtisch – Gehaltseinbußen hinnehmen. Sie schworen sich: Das passiert uns nicht wieder. Doch jetzt taumelt der VfB wieder am Abgrund.

Die Ultras stören sich an Dietrichs vermeintlicher Allmacht

Es ist eine nicht für möglich gehaltene Talsohle, die alles dämpft, was noch vor Monaten euphorisch hallte. Und die eine Nervosität befeuert, statt derer Ruhe das oberste Gebot hätte sein sollten. Bestes Beispiel: Der Streit zwischen Guido Buchwald und Aufsichtsratskollege Wilfried Porth, der am Montag im Rücktritt des Ex-Weltmeisters gipfelte. Porth wollte sich nicht zum Vorfall äußern. Buchwald schrieb via Statement: „Die entstandene Situation lässt mir keine andere Möglichkeit.“ Wenn es nur das wäre.

Die Zuschauerzahlen gehen leicht, aber merklich zurück, die Punkt- und Torausbeute nach 20 Spieltagen (15, bzw. 17) ist blamabel, Fortschritte sind schwer auszumachen – und viele Spieler reihen sich in die traurige Reihe derer ein, die beim VfB nicht stärker, sondern schwächer werden. Die Ultras schreien „Stuttgart kämpfen, Dietrich raus“ und fordern Änderungen in der Organisation der VfB AG, zum Beispiel in Form eines Vorstandsvorsitzenden. Sie stört die vermeintliche Allmacht Dietrichs.

Der 70-Jährige ist seit 2016 Präsident des Vereins, seit 2017 Aufsichtsratsvorsitzender der AG. Dem Präsidialrat des Kontrollgremiums, eine Art schnelle Eingreiftruppe, gehört er auch an – und mit Michael Reschke, dem von ihm geholten Sportvorstand, bildet er eine bislang unverwundbare Einheit. Als Oberkontrolleur des Sportchefs gilt er damit schon einmal nicht. Zuletzt gängelten sogar beide öffentlich den Sommer-Rekordzugang Pablo Maffeo, der ein „Flop“ sei und „quer im Stall“ stehe (Dietrich) – weil sich kein Abnehmer fand, soll er nun „eingenordet“ (Reschke) werden.

Die Jugendteams haben sich zuletzt positiv entwickelt

Eine gelungene Integration eines jungen Spielers aus dem Ausland sieht anders aus – dabei galt die Maxime: Wenn es ein Spieler beim Club nicht schafft, darf das an den Rahmenbedingungen nicht scheitern. Doch der lange Jahre vor allem für die spanisch sprechenden Spieler zuständige Betreuer, Jens Andrei, arbeitet mittlerweile für RB Leipzig.

Maffeo dagegen erklärte nach dem Rückrundenauftakt dem Winter-Rekordzugang Ozan Kabak wortreich, auf welch fragwürdiges Abenteuer er sich mit dem Wechsel nach Stuttgart eingelassen habe. Der damalige VfB-Profi Berkay Özcan, nun beim HSV, ging dazwischen. Ganz nebenbei: Maffeo war zehn Millionen Euro teuer – weshalb sich wohl auch der Ankerinvestor, die Daimler AG, so langsam, aber sicher fragt, was mit ihrem Geld eigentlich passiert ist. Vorstandschef Dieter Zetsche weilte beim 2:2 gegen den SC Freiburg im Stadion.

41,5 Millionen Euro hat der Autobauer vor zwei Jahren überwiesen, gemessen an den Einkäufen Reschkes ist die Kohle schon wieder weg. Doch der Sportchef steht nicht nur deshalb in der Kritik.

Zunächst regte er eine Auflösung der zweiten Mannschaft (U 23) an, nach langem Entscheidungsprozess kämpft das Team nun als U 21 gegen den Abstieg aus der Regionalliga. Zwar wird stets beteuert, der Sportvorstand tätige Transfers nicht im Alleingang, die Suche nach einem Technischen Direktor, der Unterstützung und auch Korrektiv sein könnte, dauert aber schon eineinhalb Jahre.

Seit seinen öffentlichen Zickzack-Auftritten gilt er als „Wahrheitsbeuger“. Die Jugendteams haben sich zuletzt zwar positiv entwickelt, dies wird aber vor allem Nachwuchschef Thomas Hitzlsperger zugeschrieben. Weniger gut kommen die harschen Formulierungen der vor Monaten erlassenen Verhaltensregeln für die Talente an. Da heißt es unter anderem: „Kein Stehenbleiben beim Training der Lizenzmannschaft.“ Dabei war der Club doch immer stolz auf die gelebte Nähe zwischen Profis und Nachwuchs.

Wie lange wird Dietrich noch bleiben?

Dietrich müht sich seit seinem Amtsantritt, Störfeuer zu unterbinden – vor allem jene durch ehemalige Spieler und Funktionäre. Das Konstrukt der Verschwiegenheit stand lange stabil – bis zur neuerlichen Krise. Bernd Wahler, Dietrichs Vorgänger, forderte zuletzt „eine Runderneuerung“. Ex-Profi Thomas Berthold kritisierte die Kaderplanung: „Da passt hinten und vorne nichts.“ Buchwald hatte Reschke schon im November öffentlich kritisiert und trat nun mit Getöse als Aufsichtsrat zurück. Ex-Keeper Timo Hildebrand sagte jüngst: „Der VfB ist keine Gefahr für andere Mannschaften, das ist erschreckend.“ Ändert sich das am Sonntag nicht – droht der große Knall?

Der VfB tritt bei Fortuna Düsseldorf an, braucht Fortschritte und Punkte. Sonst gerät die Clubführung noch stärker unter Druck. Zwar sagte Reschke zuletzt über Trainer Markus Weinzierl: „Er findet die richtigen Worte. Ich stehe total zu der Entscheidung, ihn verpflichtet zu haben.“ Seit dem ernüchternden Start in die Rückrunde wissen aber alle im Verein: Um den erneuten Gau zu verhindern, ist ab sofort jedes Mittel Recht. Kontinuität auf der Trainerbank, um nicht noch größere Unruhe zu schüren. Aber auch ein erneuter Trainerwechsel, will man am Ende sagen können, alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben. Ein solcher wäre aber womöglich nur der erste fallende Dominostein.

Michael Reschke hat nach der Trennung von Hannes Wolf als Nachfolger Tayfun Korkut verpflichtet und dessen Vertrag wenige Monate später vorzeitig verlängert. Im Oktober musste Korkut gehen, Reschke holte Weinzierl. Der Sportchef hat zudem das Team umgebaut, es im Winter noch einmal ergänzt – aktuell lauter Maßnahmen ohne nachhaltigen Erfolg. Undenkbar scheint es da, dass er noch einmal auf die Suche nach einem neuen Chefcoach geschickt wird. Scheitert Weinzierl, ist auch Reschke gescheitert, trotz kluger Vertragsverlängerungen und dem Verweis auf die Entwicklungsmöglichkeiten der jungen Spieler. Steigt der VfB am Saisonende gar erneut ab, gilt das in großen Teilen auch für Wolfgang Dietrich.

Ein zweiter Abstieg wäre eine Katastrophe

Der hat den VfB nach dem Abstieg 2016 zwar wieder auf Kurs gebracht und mit der lange umstrittenen Ausgliederung die Professionalisierung vorangetrieben, finanzielle Spielräume geschaffen und eine Dauerdiskussion beendet. Unter ihm wuchs die Zahl der Clubmitglieder auf 65 000, seinen stringenten Plan arbeitete er zügig und konsequent ab – eine erneute existenzielle Krise war aber weder eingeplant noch für möglich gehalten worden. Entsprechend schwer fällt dem Clubchef der Umgang damit. Zumal er parallel zur sportlichen Misere bis Saisonende einen weiteren Investor gewinnen will. Kritische Fragen hierzu sind ihm so lieb wie ein Gegentor in der Nachspielzeit.

Ein zweiter Abstieg innerhalb von drei Jahren wäre ganz unabhängig davon eine Katastrophe. Eine Euphorie wie 2016 ließe sich nicht mehr herstellen, Talente wie Timo Baumgartl würden nicht noch einmal den Gang nach unten mitmachen, zumindest fraglich wäre, ob die Sponsoren erneut bei der Stange zu halten sind. Durch den Wechsel von Benjamin Pavard zum FC Bayern kommen im Sommer immerhin 35 Millionen Euro in die AG-Kasse – die die Verluste aber nicht annähernd aufwiegen könnte. Das weiß-rote Schiff liefe erneut auf Grund.

Eine Chance, enttäuschte Anhänger zu versöhnen

Wie der Kapitän reagiert, wenn es in Düsseldorf schiefgehen sollte, ist offen. Denkbar ist trotz allem, dass Weinzierl weitermachen darf. Und dass Dietrich selbst bei einem Trainerwechsel an Reschke festhält. Doch auch ein ganz großes Beben ist keine Vorstellung aus dem von Reschke viel zitierten Phantasialand. Wer dann übernehmen würde? Hitzlsperger könnte das Amt des Sportchefs zumindest interimsweise bekleiden.

Womöglich werden all diese Fragen ja aber auch vertagt – wenn der VfB am Sonntag einen überzeugenden Auftritt hinlegt. Danach steht das Heimspiel gegen RB Leipzig an, eine Chance, enttäuschte Anhänger etwas zu versöhnen. Wobei in den Heimspielen zuletzt ja auch manches schief ging. Nicht nur auf dem Feld. Als vor der Partie gegen den SC Freiburg die Startelf auf der Videowand gezeigt wurde, sah man da Erik Thommy. Der war aber nur Ersatz. Es war ein Missverständnis. Wie derzeit so Vieles.