Immer mehr alte Menschen brauchen Pflege. Nur wächst das Personal nicht in gleichem Maß wie der Bedarf. Foto:  

Die Zahl der Pflegebedürftigen wächst. Die ambulanten Pflegedienste kommen mit diesem Wachstum nicht mit – es fehlt an Personal. Beispiele aus Stuttgart.

Stuttgart - Andrea Langstein hat in ihrem Berufsleben einiges erlebt. Seit vier Jahrzehnten ist die Leiterin des Pflegemanagements der Diakoniestation im Geschäft. Einfach waren die Verhältnisse nie, irgendwie habe man es trotzdem hingekriegt. Jetzt sagt sie: „Es wird immer schwieriger.“ Der Mangel an Fachkräften setzt der Diakoniestation zu, die mit rund 2500 Patienten und 500 Beschäftigten einer der größten Anbieter in der Stadt ist. „Wir könnten sofort mindestens 15 Pflegefachkräfte einstellen“, sagt Langstein. „Aber wir kriegen keine Bewerbungen, obwohl wir ständig Stellen ausschreiben.“

Fachkräfte sind bei allen Mangelware

Das ist kein Einzelfall. „Wir sind schon lange an der Kapazitätsgrenze“, sagt die Mitarbeiterin eines Pflegedienstes aus dem Stuttgarter Norden, bei dem 20 Beschäftigte tätig sind, ausschließlich Fachkräfte. „Wir suchen seit Langem Leute, aber es kommt niemand – es ist ein Drama.“

Je größer der Anteil der ausgebildeten Fachkräfte bei einem Dienst, desto schwieriger die Lage. „Ich kann keine neuen Patienten aufnehmen“, sagt Neriman Dedic, der einen Pflegedienst im Norden der Stadt betreibt. Der Arzt hat sich auf die ambulante Intensivpflege spezialisiert, teils müssen Patienten beatmet werden. Für die 24-Stunden-Pflege sind pro Patient viereinhalb Vollzeitstellen nötig. Mehr als drei Patienten geht da nicht. „Es fehlt das Fachpersonal“, sagt Neriman Dedic.

Verband warnt vor einer Zuspitzung der Lage

Bundesweit fehlten 50 000 bis 70 000 Fachkräfte in der Altenpflege, in Baden-Württemberg etwa 5000, sagt Bernd Tews. Er ist Geschäftsführer des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste (bpa), mit mehr als 10 000 Mitgliedern die größte Interessenvertretung der Branche. „Das treibt uns um“, sagt Tews. Die Besetzung einer Fachkraftstelle dauere im Schnitt 160 Tage, doppelt so lange wie in einem technischen Beruf. Dabei seien durch das seit Anfang 2017 geltende Pfegereformgesetz die Leistungsansprüche der Menschen noch um etwa 40 Prozent angehoben worden.

Vielfach seien Bedürftige, die vorher in der ersten von drei Pflegestufen waren, heute im dritten von jetzt fünf Pflegegraden. „Für den höheren Bedarf bräuchte man auch mehr Personal“, sagt Tews. Dazu komme die Alterung der Gesellschaft. Mancherorts sei deshalb schon heute „die Versorgung nicht mehr sichergestellt“.

Im Norden ist es noch schwieriger

In den südlichen Bundesländern sei die Lage noch etwas besser als im Norden und Osten der Republik, so der Verbandsvertreter. Im Süden seien in den Familien mehr Hilfskräfte aus Osteuropa im Einsatz. Das führt Tews auch auf die besseren Einkommensverhältnisse zurück, was es möglich mache, den Hilfskräften im Haus eine Unterkunft zu bieten. Bei den Fachkräften aber herrsche auch im Südwesten „ein extremer Mangel“.

Dabei seien die Ausbildungszahlen in der Altenpflege in den vergangenen Jahren im Schnitt um jeweils etwa zehn Prozent gestiegen. „2016 sind erstmals mehr Altenpfleger als Krankenpfleger ausgebildet worden.“ Bernd Tews geht davon aus, dass sich der Fachkräftemangel in der Pflege trotzdem „zuspitzen wird“.

„Tendenz zur Hilfskraft“

In der Praxis zeichne sich eine „Tendenz zur Hilfskraft“ ab, sagt Andrea Langstein. Denn Hilfskräfte sind noch etwas einfacher zu finden als Fachkräfte. Sie kümmern sich dann um die Grundpflege des alten Menschen, etwa um das Waschen und das Frühstück. Aber Blutdruck messen oder Kompressionsstrümpfe anziehen dürfen bisher nur ausgebildete Altenpflegerinnen. Dass führe dazu, dass mancher Pflegebedürftige zweimal am Tag von zwei Kräften besucht wird, erzählt Andrea Langstein. Das ist weder für den Patienten noch für den Pflegedienst ideal. Die Pflegebedürftigen und ihre Familien seien „extrem auf die Zeit zwischen 7 und 9 Uh morgens fixiert“. Aber nur durch eine bessere Verteilung der Besuchszeiten über den Tag kommen die Dienste in der Mangelsituation noch zurecht. „Die Versorgung zu Wunschzeiten ist nicht mehr möglich“, sagt Bernd Tews.

Ein Mittel zur Verbesserung der Lage sieht man beim Verband darin, dass Hilfskräfte künftig einige Tätigkeiten ausführen dürfen, die noch Fachkräften vorbehalten sind. Klassisches Beispiel: die vom Arzt verordneten Kompressionsstrümpfe. „In einigen Bundesländern machen das auch Hilfskräfte“, so der Geschäftsführer. Dies ermögliche eine bessere Verteilung der Arbeit. „Doch gerade in Baden-Württemberg sind die Kassen sehr skeptisch.“ Mit einigen Ersatzkassen sei man in Verhandlungen. Man wolle nicht die Qualitätsstandards senken, versichert Tews. „Es geht darum, die Versorgung sicherzustellen.“

Einige Dienste stellen sich um

In diese Richtung unterwegs ist der Pflegedienst Zu Hause leben im Stuttgarter Westen. Der als Verein organisierte Dienst, hervorgegangen aus einer Nachbarschaftshilfe, hat 38 Mitarbeiter, vor allem Minijobber, davon drei examinierte Kräfte. Sie alle betreuen insgesamt 48 Patienten. Aber es seien noch rund 150 Ehrenamtliche aktiv, von denen etliche warten, auch einen Minijob zu bekommen, sagt Gerda Mahmens, die Vereinsvorsitzende. Sie war eineinhalb Jahrzehnte im Controlling von ambulanten Diensten tätig. „Die Examinierten machen die schwierigen Fälle“, so Mahmens. Es wird aber vieles von Hilfskräften ausgeführt, die „in vielen Teamgesprächen“ von den Fachkräften angeleitet, geschult und kontrolliert werden. „Das machen andere noch nach altem Schema“, sagt die Vorsitzende. Die Pflege sei zu schwerfällig, dort wolle man nicht umdenken, so Gerda Mahmens. „Die Probleme sind auch selbst gemacht.“

Stadt startet Umfrage

Vorigen Herbst hat das Statistische Amt die aktuellsten Zahlen zu den Pflegebedürftigen in Stuttgart aufbereitet. 2013 lebten in Stuttgart demnach 13 609 pflegebedürftige Menschen. 2015 waren es schon 14 893, ein Plus von 9,4 Prozent. Ein Drittel (33,2 Prozent) lebt in einer stationären Einrichtung. Zwei Drittel der Menschen werden zuhause gepflegt, 46,6 Prozent von diesen von Angehörigen, 20,2 Prozent durch ambulante Dienste. Seit 1999 ist die Zahl der stationär gepflegten Menschen zurückgegangen (von 38,5 auf 33,2 Prozent), die häusliche Pflege hat entsprechend zugenommen. Dieser Trend ist ungebrochen.

Bei der Stadt weiß man um die Verhältnisse bei den ambulanten Diensten. „Es gibt teilweise schon Engpässe“, sagt Sozialamtsleiter Stefan Spatz. Deshalb hat man vorige Woche mit einer Umfrage begonnen. Auf der im Netz einsehbaren Liste des Bürgerservices Leben im Alter sind 130 ambulante Pflegedienste registriert. „Wir wollen rauskriegen, wie die Situation vor Ort ist“, sagt Spatz. Mitte Februar sollen erste Ergebnisse vorliegen.