Foto: Obert

Auf einer Reise im Greyhound-Bus von New York nach San Francisco entblößt Amerika seine Seele. Hier trifft man die vom Leben gebeutelten, die Mittellosen, die Träumer. Und vertilgt dabei jede Menge Fastfood.

Sag mal, Sunny, frage ich westlich von Toledo meinen Sitznachbarn, was liebst du besonders an deinem Land? Sunny ist 1,65 groß und wiegt vier Zentner. Mindestens. In Linkskurven pressen mich seine Fleischmassen gegen das Busfenster. "Freiheit, Mann!", antwortet er mit vollem Mund. "Wir sind das freieste Volk auf diesem Planeten! Unsere Freiheit lassen wir uns von keinem nehmen!"

Ich hätte in weniger als sieben Stunden mit dem Flugzeug von New York nach San Francisco reisen können. Im Mietwagen wäre die Strecke von der Ost- zur Westküste in, sagen wir, drei Tagen zu machen gewesen. Im Greyhound-Bus wird sie gefühlte Jahre dauern. Doch gibt es einen besseren Weg, um herauszufinden, wer diese Amerikaner wirklich sind? Vor mir liegen sechstausend Kilometer Asphalt, eine Entfernung, so groß wie von Berlin zur westchinesischen Grenze. Der Greyhound hält bei McDonald’s. Zum siebten Mal seit New York. Sunny, ein Buddha in kurzen Hosen und geripptem weißem Unterhemd, stürmt hinaus und kommt wie alle anderen mit einer riesigen braunen Tüte zurück. Im Bus dampft es wie in einer Imbissbude. In Windeseile baut Sunny die Burger, Fritten und den Dreiviertelliter Cola ein. Dann kommt wieder eine Linkskurve – uff! "Nicht meine Schuld, Mann!", schnauft Sunny. "Bei Greyhound sparen sie an allen Ecken! ’n paar Dollar mehr, Mann, und die Sitze wären breit genug für ganz normale Menschen!"

Der Greyhound bietet wenig Komfort. Die Klimaanlage sorgt für arktische Temperaturen. Mein Sitz ist eng und kaum gepolstert, die Armlehne abgerissen, die getönte Scheibe mit einer gelblichen Flüssigkeit verklebt. Fernseher? Radio? Fehlanzeige. Ich habe einen MP3-Player dabei: Songs für die Straße. Während der Bus dem Abend über den Great Lakes entgegenfährt, singt Johnny Cash zur leicht gezupften Westerngitarre "Come Take a Trip in My Airship".

Irgendwann in dieser Nacht steigt der dicke Sunny aus. In Indiana passiert der Bus die Grenze zwischen Eastern und Central Time und holt eine Stunde für mich raus. Ich rolle meinen Pullover in den Nacken und versuche zu schlafen. Gerade als ich endlich einnicke, fangen hinter mir zwei Männer an, sich lautstark über ihre Bewährungshelfer zu unterhalten; dann diskutieren sie, welche Kanone sich am besten eignet, um einen Supermarkt auszurauben.

Im ersten Morgenlicht überquert der Greyhound den Missouri, einen breiten Strom mit bewaldeten Ufern. Hier, im Bundesstaat Nebraska, beginnt der Westen. In den Great Plains, dem Land von Buffalo Bill und Wyatt Earp, lassen weit verstreute Gehöfte an die Wagenburgen der ersten Siedler denken. Über der Ebene treiben Wolkenbausche wie mit Deckweiß in den Himmel getupfte Büffel – Tausende davon. Der Highway ist zweispurig und schnurgerade, das Land sattgrün, flach und so eintönig, dass ich mich frage, ob der Bus wirklich vorankommt. Oder läuft die Landschaft mit?

"Mir ist die Ebene recht", knurrt Hugh, ein grobschlächtiger Hüne, der sich in Ogallala neben mich setzt. "Die Ebene ist Freiheit pur! In der Ebene kann ich von weitem sehen, wenn einer kommt." Er starrt mich seltsam an und spuckt Kautabak in eine Plastiktüte. "Die Ebene lässt mir genügend Zeit, um zu entscheiden, ob ich jemandem zuwinke oder mein Gewehr durchlade." Ich stelle meine Uhr eine weitere Stunde zurück – Mountain Time. Der Bus folgt den Viehzäunen entlang des Interstate 80. Verrostete Windräder erheben sich über stillgelegten Wasserpumpen. Baumstämme treiben in erdbraunen Flüssen. An zerbeulten Briefkästen gehen Staubpisten im rechten Winkel vom Highway ab, entlegenen Farmen entgegen.

Im Bundesstaat Wyoming hat das Wort "Freiheit" noch einen metallischen Beigeschmack. Bei einem kurzen Stopp in einem namenlosen Kaff mache ich ein paar Schnappschüsse vom Bus, da kommt der Stationsvorsteher in Cowboystiefeln und Stetson angerannt. "Keine Fotos!", schreit er. "Absolut verboten, Mann!" Ich sehe mich um: eine Bretterbude, ein im Wind quietschendes Schild ohne Aufschrift, Staubhosen, die über ein leeres Land jagen. Warum sollte ich hier nicht fotografieren dürfen? "Warum? Du fragst, warum?", schreit er fassungslos. "Willst du mich verarschen, Mann? Hast du da, wo du herkommst, noch nie was von Osama bin Laden gehört?"

"Kiss me where it smells funny", rockt die Bloodhound Gang, und bald wird die Landschaft von Hügelketten durchbrochen, hier und da liegen Weizenfelder auf kleinen Terrassen. Regen klatscht auf die Windschutzscheibe und wäscht Staub und Fliegendreck ab, bis sich die Sicht allmählich klärt und ich ahne, dass die Ansprüche vieler Amerikaner an ihre Freiheit sehr gering sind. Freiheit sei, erfahre ich von meinen Mitreisenden, sich demnächst einen neuen Geländewagen zu kaufen. Oder einen Fernseher. Oder ein Paar Jeans. Und Jonathan, ein Versicherungsvertreter in den besten Jahren, freut sich: "Ich bin ein freier Amerikaner, weil ich unbehelligt die Straße hinuntergehen kann." Als ob ein solches Abenteuer überall sonst zwangsläufig dazu führe, auf der Stelle erschossen zu werden. Ich brauche Schlaf. Dringend. Seit fünfzig Stunden sitze ich im Bus. Doch die grauhaarige Frau neben mir schnarcht mit weit offenem Mund und sabbert mich voll. Ich wanke nach hinten, um mich zu säubern. Ein schlaksiger Typ kommt aus der Toilette. Unter seiner Nase leuchtet weißes Puder. "Ah, großartig!", sagt er. "Auch ’n bisschen Koks?" Er habe auch Crack im Angebot.

Die Freiheit fährt mit

Allmählich begreife ich, dass ein Greyhound eine Welt für sich ist: die Welt der Verzweifelten, der Chancenlosen und Spinner, die Welt all jener Amerikaner, die sich kein eigenes Auto und keine teuren Flugtickets leisten können. Hinter Laramie strebt der Interstate 80 wie mit dem Lineal gezogen auf die Rocky Mountains zu, eine dunkle Wand, aus der weiße Schneefelder leuchten. Pferde und Rinder teilen sich samtgrüne Ebenen mit wilden Antilopen. Stunden später kündigt ein Schild die Kontinentale Wasserscheide an. Von nun an sprudeln die Bäche dem Pazifik entgegen. Im Bus hängen die Dünste der Reisenden und des Fastfoods über den Sitzreihen. Dazu der beißende Geruch der Toilette.

Meine dritte Nacht im Greyhound. Ich weiß nicht mehr, wie ich sitzen soll. Mein Rücken schmerzt. Ein Brennen zieht sich vom Steißbein bis in die Kniekehle. Lange halte ich das nicht mehr aus. Wenn der Bus nicht bald … hinter meiner Stirn laufen Bilder ab wie aus einem Film der Cohen-Brüder, Szenen, in denen Blut fließt. "Jesus sagt mir, dass du ein Problem mit deinem Leben hast", behauptet die schwarze Frau neben mir, dann legt sie ihre Hand auf mein Haupt und fängt an, für mich zu beten. Endlich graut der Morgen, ein klarer Morgen über der Wüste von Nevada: Büschelgräser und Geröll, gebacken von der Sonne. In dieser Monotonie springt die Zeit unbemerkt um eine weitere Stunde zurück – Pacific Time. "The highway is for gamblers", singt Bob Dylan, und während der Bus hinauf in die Sierra Nevada fährt, durchströmt mich auf einmal ein Gefühl unbeschreiblicher Leichtigkeit. Die Straße ist ein exakter Asphaltschnitt in einem leeren Land. Salzwüsten ziehen vorüber. Räume von blendendem Weiß, durch die man endlos weiterfahren kann. Bei diesem Gedanken wird mir das Ausmaß meiner eigenen Freiheit bewusst, der Freiheit des Busreisenden. Ich brauche nicht darüber nachzudenken, ob ich links oder rechts abbiegen, anhalten oder weiterfahren will. Es ist der Greyhound, der mich befreit. Von jeder Entscheidung. Ich muss nichts weiter tun, als mich zurückzulehnen und mich westwärts tragen zu lassen, hinauf zum Donner Pass, wo über dunklen Wäldern die verschneiten Rücken der Sierra blitzen – und dann hinunter in die kalifornische Küstenebene. Ich bin unterwegs! Im Greyhound! Ah, die Straße! Das Adrenalin! Like a rolling stone. Ja, Bob, ja: My wheels are on fire. Und dann ist es zum ersten Mal über dem Highway angeschrieben: San Francisco. 143 Meilen. Zwischen den Sitzen hindurch sehe ich, wie über die Wangen einer Frau Tränen rinnen. "Mein Mann trinkt viel und schlägt viel", schnieft sie. "Hab’s nicht mehr ausgehalten, Junge, bin abgehauen." Sie ist klein und nicht mehr jung. Von ihren Fingernägeln blättert roter Lack. Ihre Augen sind von einem wässrigen Blau. Sie hat noch 3 Dollar 90 in der Tasche und ein Ticket bis Los Angeles. Als ich sie frage, wie sie heißt, sagt sie: "My name is Liberty" – Freiheit.

Draußen glitzert auf einmal eine riesige Wasserfläche, viel zu groß für einen Fluss oder einen See. Es sind die Arme des Pazifischen Ozeans, die tief ins kalifornische Hinterland greifen. Liberty kramt in ihrer Tasche. "Schreib was, Junge!", sagt sie und streckt mir Block und Stift hin. "Irgendetwas! Für mich!" Was soll ich sagen? Nach neunzig Stunden im Greyhound? Und dreißig Stopps bei McDonald’s? Mein Magen grummelt. Ich brauche eine Dusche, ein Bett, einen Chiropraktiker. Nehme Libertys Stift und notiere den Vers, den ich eben auf meinem MP3-Player hörte. Von Jack Kerouac, dem amerikanischen Asphaltpoeten: "Sie war ein unbändiger, bejahender Ausbruch amerikanischer Lebensfreude; sie war der Westen selbst, der Westwind, eine Ode aus der Prärie." "Ist das von dir, Junge? Ist das wirklich von dir?" Es ist dieser Blick, den ich mit zurück ins Alte Europa nehmen werde, die rätselhafte Zuversicht und Kraft in diesem beunruhigenden Blau.

Draußen ritzen Frachtschiffe und Segeljachten weiße Schriftzeichen in eine weite Bucht. Eine Brücke schwingt sich hinüber, dorthin, wo ich im Dunst des Abends die Skyline einer Stadt erahne. "San Francisco, Leute!", ruft der Busfahrer über seine Schulter. "Die Erfüllung eurer Träume! Die große Freiheit! San Francisco! Danke, dass ihr dabei wart!"

Info Das Greyhound-Ticket von New York nach San Francisco kostet ab 210 Dollar. Alle Fahrkarten gibt es direkt am Greyhound-Schalter oder im Internet unter http://www.greyhound.com, zu bezahlen mit Kreditkarte.

Mit dem Greyhound North America Discovery Pass kann man die Busse sieben, fünfzehn, dreißig oder sechzig Tage unbegrenzt nutzen. Für sieben Tage kostet der Pass 329 Dollar, für sechzig Tage 750 Dollar. Informationen unter http://www.discoverypass.com. In Deutschland kann der Pass unter anderem über StaTravel bezogen werden: http://www.statravel.de.

Die Platzwahl im Greyhound ist frei, eine Reservierung nur auf wenigen ausgewählten Strecken möglich. Wer zuerst einsteigt, wählt zuerst. Wer nicht im Bus ist, wenn alle Plätze vergeben sind, muss – trotz Fahrkarte – draußen bleiben und auf den nächsten warten. Das kann einen Tag dauern. Also: Mindestens eine Stunde vor Abfahrt im Terminal sein und sich vor dem entsprechenden Gate anstellen. Jeder Fahrgast kann ein großes Gepäckstück sowie ein Handgepäck mit bis zu elf Kilogramm gratis mitnehmen. Tiere dürfen nicht mitfahren. Ausgenommen sind allerdings Blindenhunde, die gratis reisen. Allgemeine Auskünfte: In Nordamerika gibt es über 3.000 Greyhound-Stationen, die Auskünfte zu Fahrplänen und Ticketpreisen erteilen. Infos auch telefonisch unter 001 / 2 14 / 8 49 81 00 oder im Internet: http://www.greyhound.com.