Nach vier Jahren Gefängnis in Italien ist Knox nach Seattle zurückgekehrt. Dort wurde sie bejubelt.

Perugia/Seattle - Die Nachbarn kommen mit Blumen. „Willkommen daheim Amanda“, steht an einem Schaufenster. Ein Lokal hat zur Feier des Tages Getränke zum halben Preis im Angebot, und im Elternhaus von Amanda Knox in Seattle steigt eine kleine Begrüßungsparty. Nach vier Jahren in einem italienischen Gefängnis, als Mörderin verurteilt und dann überraschend freigesprochen, ist die 24-jährige Studentin wieder zuhause in den USA.

Während sie zu Tränen gerührt allen dankt, die zu ihr gehalten haben, ist in dem spektakulären Mordfall das letzte Wort wohl noch nicht gesprochen. Weiteres juristisches Gerangel ist abzusehen. Von Anfang an war es ein Fall voller Widersprüche. Auch nach dem Freispruch Knox' und ihres Exfreundes Raffaele Sollecito in der Berufung sind noch viele Fragen offen. Ungeklärt ist vor allem, ob der noch einsitzende dritte Verurteilte wirklich der einzige war, der 2007 in Perugia die britische Austauschstudentin Meredith Kercher umbrachte. Manche Rätsel reichen bis an den Anfang der Ermittlungen zurück.

Warum sagte Knox ursprünglich aus, sie sei am fraglichen Abend in der Wohnung gewesen und habe sich die Ohren gegen die Schreie ihrer Mitbewohnerin zugehalten, die von einem - von Knox fälschlich bezichtigten - Mann brutal angegriffen worden sei? In der Wohnung soll es an dem Abend einen Einbruch gegeben haben - nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft von den Mördern vorgetäuscht, um eine falsche Spur zu legen. Wer inszenierte diesen Einbruch, und weshalb? Und dann das Alibi Sollecitos: Er will am Abend des 1. November 2007 zuhause gewesen sein und am Computer gearbeitet haben - doch gibt es Polizeiangaben zufolge kein Anzeichen dafür, dass der Rechner zu diesem Zeitpunkt benutzt wurde.

Wenn nicht die, wer dann?

Das Urteil des Berufungsgerichts, das am Montag die Schuldsprüche und langjährigen Haftstrafen für beide kippte, beantwortet keine dieser Fragen. Dass die binnen 90 Tagen erwartete Urteilsbegründung mehr Licht in die Sache bringt, ist nicht zu erwarten. Damit dürfte der Fall auf Jahre hinaus ein Rätsel bleiben. Die Staatsanwaltschaft hat bereits angekündigt, nach Vorliegen der schriftlichen Begründung vor das Appellationsgericht zu ziehen.

Rudy Guede, der wegen sexueller Nötigung und Mordes an Kercher im Gefängnis sitzt, ist in dieser letzten Instanz bereits einmal gescheitert. Sein Anwalt Valter Biscotti sagte der Nachrichtenagentur AP, er wolle angesichts des Freispruchs für Knox und Sollecito eine Wiederaufnahme des Falles versuchen.

Guede war in einem abgetrennten Verfahren erst zu 30 Jahren, dann in der Berufung zu 16 Jahren verurteilt worden. Der kleine Dealer hat zugegeben, dass er am Abend von Kerchers Tod in ihrem Zimmer war, bestreitet aber, sie umgebracht zu haben. Er glaube, dass das Knox und Sollecito gewesen seien, sagte er aus, ohne diese Vermutung zu untermauern. Guede sei kein Einzeltäter gewesen, befand das Appellationsgericht, ohne aber Knox oder Sollecito als Komplizen zu benennen. „Die Gerichte sind sich einig, dass er nicht alleine gehandelt hat“, sagte Lyle Kercher, der Bruder des Opfers. „Wenn diese beiden nicht die Schuldigen waren, wer dann?“

In seinem Berufungsverfahren schilderte Guede, der von der Elfenbeinküste stammt, einen Streit zwischen Kercher und Knox in deren gemeinsamer Wohnung kurz vor dem Mord. Er sei im Badezimmer gewesen, habe die jungen Frauen über Geld streiten und dann einen „sehr lauten Schrei“ aus Kerchers Zimmer gehört. Er sei hingerannt und auf einen Unbekannten getroffen, der ihn anzugreifen versucht und gesagt habe: „Verschwinden wir. Da ist ein Schwarzer im Haus.“

„Kämpfen bis zum Schluss“

Knox hatte den Ermittlern anfangs erzählt, sie sei an dem Abend zuhause gewesen und habe sich die Ohren zuhalten müssen, weil Kercher so geschrien habe: Ihre Mitbewohnerin sei von Diya „Patrick“ Lumumba angegriffen worden. Lumumba stammt aus dem Kongo und besitzt ein Lokal, in dem die Amerikanerin gelegentlich arbeitete. Auf diese Aussage berief sich im November 2007 der Haftrichter, wies aber darauf hin, dass Knox an dem Tag gekifft habe und sich nur wirr erinnere. Knox erklärte nie, warum sie Kercher nicht zu Hilfe kam, und gab später an, den Abend bei Sollecito verbracht zu haben. Die Anklage wegen Verleumdung Lumumbas war der einzige Punkt, der in der Berufung standhielt und mit drei Jahren geahndet wurde. „Warum hat sie ihn beschuldigt? Wir wissen es nicht“, grübelte Staatsanwalt Giuliano Mignini. Einen weiteren Verleumdungsvorwurf handelte sich Knox mit der Angabe ein, sie sei von der Polizei geschlagen worden.

Die DNA-Spuren, die im ersten Prozess die Anwesenheit von Knox und Sollecito am Tatort belegten, hielten in der Berufung nicht stand. Die Aussage eines Obdachlosen, er habe Knox und Sollecito am Tatabend in der Nähe der Wohnung gesehen, wurde durch das Eingeständnis seiner Heroinabhängigkeit entwertet. In der gemeinsamen Wohnung der Studentinnen fanden sich aus Sicht der Staatsanwaltschaft unnatürlich wenige Fingerabdrücke von Knox. Sie habe wohl versucht, die Spuren ihrer Anwesenheit zu beseitigen, und zudem ein Fenster eingeschlagen, um einen Einbruch vorzutäuschen, argwöhnte Mignini. Umstritten blieb auch, ob ein bei Sollecito gefundenes Küchenmesser wirklich die Tatwaffe war. Das Mordmotiv ist ohnehin unklar.

Knox beteuert ihre Unschuld. Sollte das Appellationsgericht angerufen werden und auf Verfahrensfehler erkennen, könnte die Staatsanwaltschaft den Fall neu aufzurollen versuchen und die Auslieferung der Amerikanerin beantragen. „Wir werden das bis zum Schluss durchkämpfen“, sagt ihr Vater Curt Knox und geht hinein ins Haus, zur Willkommensparty.