Auf der Suche nach einem Nachfolgermodell gingen die Gründer des Software- und Technologieunternehmens iteratec GmbH einen ungewöhnlichen Weg: Statt ihre Anteile an die nächste Generation zu übergeben oder die Firma zu verkaufen, machten sie die eigenen Mitarbeiter zu Inhabern.
Stuttgart - Wie kann man nach über 20 Jahren erfolgreicher Unternehmensführung eine Firma übergeben, ohne die darin gewachsene Kultur und das kollegiale Miteinander zu gefährden? Vor dieser Herausforderung standen Klaus Eberhardt und Mark Goerke, die beiden Gründer der iteratec GmbH, im Jahr 2018. Das Software- und Technologieunternehmen mit heute rund 400 Mitarbeitern und 100 Studierenden entwickelt digitale Lösungen für Kunden wie Daimler, Otto oder die Deutsche Bahn. Als mehrfach ausgezeichneter Arbeitgeber ist iteratec besonders stolz auf seine Unternehmenskultur.
„Wir haben seit unserer Gründung versucht, einige Dinge anders zu machen, als man es von anderen Unternehmen her kennt“, erklärt Klaus Eberhardt. „Etwa, indem wir bewusst auf quantitative Wachstumsziele verzichten und das Prinzip der dienenden Führung leben“.
All das sollte bei der Übergabe des Unternehmens unbedingt erhalten bleiben, weshalb ein Verkauf des Unternehmens für die beiden Gründer nicht in Frage kam, trotz zahlreicher Übernahmeangebote von großen Systemhäusern. Auch andere, klassische Nachfolgemodelle, hatten ihre Schwächen. Bei einem Partner-Modell mit Management-Buyout etwa hätten sich einige wenige Führungskräfte hoch verschulden müssen. In einer Stiftung wiederum läge die Kontrolle in den Händen von Personen ohne direkten Bezug zum Kerngeschäft. Kurzum: Eine neue Idee musste her.
„Am Ende war die Lösung relativ simpel“, erklärt Mitgründer Mark Goerke. „Wer die Kultur eines Unternehmens bewahren will, der muss es den Menschen übergeben, die es am besten kennen – und das sind die eigenen Mitarbeiter“. So entstand die Idee einer Genossenschaft, der iteratec nurdemteam eG.
Schrittweise Übergabe
„Das Modell ist bei deutschen Unternehmen bislang wenig verbreitet“, so Goerke. „Für uns schien es aber perfekt zu passen.“ Jeder Beschäftigte kann gegen Zahlung eines Beitrags Mitglied der Genossenschaft werden. Die Mitgliedschaft endet mit Ausscheiden aus der Firma. Die operative Geschäftsführung bleibt bei der GmbH. Dies soll schnelle Entscheidungen und Kontinuität für die Kunden gewährleisten.
Die iteratec GmbH unddie iteratec nurdemteam eG bestehen parallel. Der Verkauf der GmbH an die Genossenschaft erfolgt schrittweise. Initial erwarb die eG bereits 49 Prozent der iteratec GmbH, um mit dem entsprechenden Gewinnanteil den Kredit dafür zu bedienen. Nach sechs bis sieben Jahren sollen dann die restlichen 51 Prozent an die Genossenschaft übergehen. Den Unternehmenswert ermittelten die Inhaber auf Basis von branchenüblichen Kennzahlen, haben den Kaufpreis dann allerdings noch einmal halbiert, damit die eG den Kredit auch tatsächlich abzahlen kann. „Für uns stand bei allen Überlegungen stets im Mittelpunkt, das Unternehmen für die Mitarbeiter*innen so zu erhalten, wie es ist“, betont Klaus Eberhardt.
Als die beiden Gründer dieses Modell im Rahmen des jährlichen Mitarbeiter-Workshops ihren Mitarbeitern vorstellten, waren die Reaktionen überwältigend. Diese Begeisterung hat sich bis heute gehalten: Die Genossenschaft hat mittlerweile mehr als 220 Mitglieder*innen – neben Klaus Eberhardt und Mark Goerke engagieren sich 9 weitere Mitarbeiter*innen als gewählte Vertreter in Vorstand und Aufsichtsrat, neben ihrem normalen Job.
Unternehmerische Mitbestimmung erfordert Transparenz
Einer von ihnen ist Michael Gebhart. Der Projektbereichsleiter aus Stuttgart ist Vorstand der iteratec nurdemteam eG und hat den Gründungsprozess eng begleitet. Er weiß, dass es mit dem Verabschieden einer Satzung und einem Besuch beim Notar nicht getan ist: „Eine Genossenschaft erfordert ein enorm hohes Maß an unternehmerischer Mitverantwortung, wenn es darum geht, über wichtige Themen wie die Verwendung von Gewinnen oder die Berufung der Geschäftsführung zu entscheiden“.
Einen ersten solchen Abstimmungsfall gab es bereits: Im Dezember letzten Jahres wählten die Genossenschaftsmitglieder den bisherigen Leiter des Münchener Standorts Stefan Rauch zum Geschäftsführer. Die bislang noch mehrheitsbeteiligten Gründer hatten dessen Berufung vom Votum der Genossenschaftsmitglieder abhängig gemacht. Ein Novum für alle Beteiligten.
„Damit die Mitglieder in Fällen wie diesen qualifizierte Entscheidungen treffen können, ist es unabdingbar auch, außerhalb der Generalversammlung sehr transparent und offen zu kommunizieren“, betont Michael Gebhart. „Dafür setzen wir auf unterschiedliche Formate, wie etwa den ‚Dialog am Abend‘, bei dem sich die Geschäftsführung per Videokonferenz den Fragen der Mitarbeiter*innen stellt.“ Eine hohe Beteiligung und effektive Entscheidungsfindung wird bei diesen Formaten durch die Verwendung von innovativen Methoden wie Liberating Structures sichergestellt. Die hauseigenen agilen Coaches moderieren zielgerichtet die Versammlungen.
Die Genossenschaft als Innovations-Hub
Die Beteiligung der Mitarbeiter an Entscheidungsprozessen und das selbständige Weiterentwickeln der Organisation hat bei iteratec ohnehin eine lange Tradition. Bereits vor Gründung der Genossenschaft setzte das Unternehmen an vielen Stellen auf selbstorganisierte Initiativen anstelle von klassischen Top-Down Zielvorgaben. So treiben standortübergreifende ‚Communities‘ die Weiterentwicklung von Themen wie Agiles Arbeiten, IT-Architekturen oder DevOps durch interne Workshops und kontinuierlichen Austausch zwischen den Expert*innen im Haus voran.
„Vieles von dem, was uns heute als Unternehmen ausmacht, was wir können oder die Projekte, die wir gewonnen haben, gehen auf das freiwillige Engagement unserer Kolleg*innen zurück“, erklärt Klaus Eberhardt. „Auf dieses unternehmerische, selbstorganisierte Handeln unserer Mitarbeiter*innen sind wir sehr stolz.“
Mit der Genossenschaft, so die Hoffnung der Gründer, solle sich diese positive Entwicklung weiter fortsetzen, da die Beschäftigten als Mitinhaber für ihre eigenes Unternehmen verantwortlich sind. Durch die intrinsische Motivation der mehr als 220 Eigentümer würde die Genossenschaft zu einer Art riesigem Innovations-Hub – so die Vision. „Wir wollten eine Umgebung bereitstellen, in der jeder Mitarbeiter alle Möglichkeiten hat, das Unternehmen auf seine Weise voranzubringen“, erklärt Eberhardt.
Zeit für freie Innovation – die Inno Frei-Days
Das zeigt sich auch an den Innovation Frei-Days. Dabei handelt es sich um ein festes Zeitkontingent von fünf Tagen im Jahr, das jedem Mitarbeiter zur Verfügung steht, um sich eigenen Projekten zu widmen, für die neben den Kundenprojekten sonst wenig Zeit zur Verfügung steht. Inhaltliche Vorgaben, Strukturelle Vorgaben oder Zielvorgaben der Geschäftsführung gibt es keine. Idealerweise bilden sich kleine Teams, auch standortübergreifend. Viele der dabei entstandenen Projekte sind mittlerweile als interne Anwendungen bei iteratec im Einsatz, sind als Open Source Projekte frei verfügbar oder haben sich sogar zur Kundenlösung entwickelt.
„Wir haben den Anspruch, unsere Kunden zu digitalen Champions zu machen. Innovatives Denken und die permanente Weiterentwicklung unserer Fähigkeiten sind für uns als Technologieunternehmen der entscheidende Erfolgsfaktor“, beschreibt Klaus Eberhardt die Motivation hinter dem Tag. „Mit den Innovation Frei-Days haben wir einen sehr guten Weg gefunden, um Innovation jenseits von den Zwängen des Projektgeschäfts eigenverantwortlich voranzutreiben.“
DecentraVote – von der internen Abstimmungslösung zur Produktreife
Wie die Genossenschaft in der Praxis zur Plattform für innovative Ideen werden kann, zeigt auch das Beispiel der Abstimmungssoftware DecentraVote. Die blockchainbasierte Lösung für virtuelle Versammlungen wurde ursprünglich von einem Team am Wiener iteratec Standort entwickelt. Ziel war eine effiziente, sichere und transparente Beschlussfassung bei den Generalversammlungen der Genossenschaft zu ermöglich. Mittlerweile wird das System als eigenständige Lösung vertrieben und wurde bereits mehrfach im Rahmen von virtuellen Mitgliederversammlungen eingesetzt, unter anderem für das Sicherheitsnetzwerk München e.V. sowie den Blockchain Bayern e.V.
„Wenn ein solcher Innovationstransfer zwischen Genossenschaft und unserem Tagesgeschäft stattfindet, ist das natürlich ein besonderer Glücksfall. Denn das zeigt den Mitarbeiter*innen, wie wir Innovationen, die in der Genossenschaft entstehen, für unser Tagesgeschäft nutzen können“, betont Michael Gebhart. „Gerade solche Situationen sollten uns allen Mut machen, neue Ideen voranzutreiben, um das enorme Potenzial des gesamten Teams zu nutzen.“
Solidarität in der Krise – die iteratec Urlaubsspende
Verantwortung übernehmen die Mitarbeiter dabei nicht nur für die technologische Weiterentwicklung, sondern auch für ihre Kolleg*innen: Als im Frühjahr 2020 durch die Schließung von Schulen und Kindertagesstätten der Betreuungsaufwand für viele Kolleginnen und Kollegen immens stieg und diese ungeplant Urlaub nehmen mussten, riefen die Mitarbeiter*innen den ‚iteratec Solidaritätsfonds‘ ins Leben. Dort konnten alle festangestellten iteratec-Mitarbeiter zugunsten betroffener Kolleg*innen auf einen Teil ihres Urlaubsanspruchs verzichten und diese Zeit in Form von Urlaubstagen in den Fonds einbringen. Seit dem Start der Aktion kamen auf diese Weise bereits über 400 gespendete Urlaubstage zusammen, die im Laufe des Jahres an die Betroffenen ausgeschüttet wurden.
"Ich freue mich sehr, dass eine solche Initiative aus der Belegschaft heraus entstanden ist und bin stolz darauf, dass sich so viele Spenderinnen und Spender daran beteiligt haben“, sagt Klaus Eberhardt. „Das Beispiel zeigt, wie gut unser genossenschaftliches Modell funktioniert, indem Kollegen als Miteigentümer Verantwortung übernehmen und Solidarität beweisen.“
Fazit – Die Voraussetzungen müssen stimmen
Mehr als zwei Jahre nach dem Start der Genossenschaft zieht iteratec ein positives Fazit. Man habe für den mutigen Schritt bisher viel Lob und Anerkennung erhalten, erklärt eG Vorstand Michael Gebhart. Nicht nur von den eigenen Mitarbeiter*innen, sondern auch von anderen Unternehmern, die vor ähnlichen Herausforderungen beim Thema Nachfolge stehen.
„Für uns ist die Genossenschaft ein absolutes Erfolgsmodell, da wir mit ihr einen Weg gefunden haben, das zu bewahren, was uns als Unternehmen ausmacht und gleichzeitig unsere Innovationskraft noch weiter zu stärken“, so Gebhart. Jedoch sei unternehmerische Mitbestimmung kein Selbstläufer: „Es reicht nicht, einfach nur Mitarbeiter*innen zu Gesellschaftern zu machen und plötzlich denken alle Mitarbeiter*innen wie Unternehmer.“ Nur wenn die Unternehmenskultur stimmt und die Strukturen im Unternehmen echte Teilhabe unterstützen, kann das Modell zum Erfolg werden.
Diese Kultur zu erschaffen, zu fördern und auszubauen ist die zentrale Herausforderung, denen sich alle 220 Eigentümer der iteratec nurdemteam Genossenschaft konstant stellen dürfen.