Die Stadt Stuttgart will verstärkt auf kürzere Angebote in Krippen setzen. Foto: dpa/Sebastian Kahnert

Die Stadt Stuttgart will weg vom Ziel, möglichst viele Ganztagsplätze für unter Dreijährige anzubieten. Die Verwaltung ist überzeugt: Vielen Eltern reichen 30 bis 35 Stunden Betreuungszeit. Auch die Kriterien, wie die Plätze vergeben werden, sollen sich ändern. Was ist genau geplant?

Von einem „Paradigmenwechsel“ sprach Jörg Schulze-Gronemeyer von der evangelischen Kirche, ein alter Hase im Stuttgarter Kitageschäft. Und auch Jugendamtsleiterin Susanne Heynen, oberste Chefin aller städtischen Einrichtungen, sagte: „Das wird anstrengend und unsere Kitalandschaft stark verändern.“

 

Kurz zuvor hatte sie mit ihrem Mitarbeiter Oliver Herweg im Jugendhilfeausschuss der Stadt auf fünf Folien den neuen Weg der Verwaltung vorgestellt, um möglichst vielen Kindern unter drei Jahren einen Platz zur Verfügung zu stellen. Es handelte sich dabei um eine reine Information und die Möglichkeit zum Meinungsaustausch für die Ausschussmitglieder, zustimmungspflichtig sind diese Vorhaben vorerst nicht.

30-Stunden-Angebote statt Ganztag

Vor allem zwei große Veränderungen soll es geben: Die Stadt will sich von ihrem bisherigen Ziel, möglichst viele Ganztagsplätze mit einer Betreuungszeit von 40 Stunden im Krippenbereich vorzuhalten und auszubauen, verabschieden. Stattdessen soll es zunehmend 30- und 35-Stunden-Angebote geben. Und diese sollen dann verlässlich sein. Derzeit müssen Zeiten oft wegen fehlenden Personals kurzfristig reduziert werden. Die Stadt würde in Zukunft zudem gern Eltern ermöglichen, Betreuungszeit im Lauf der Jahre flexibler aufzustocken oder zu verringern.

Außerdem sollen die Kriterien, nach denen Plätze vergeben werden, wie etwa der Arbeitsumfang der Eltern, anders gewichtet werden. Es ist der Versuch, mit dem eklatanten Fachkräftemangel in den Kitas umzugehen und aus dem bestehenden Angebot heraus und mit dem vorhandenen Personal zusätzliche Plätze zu schaffen, das machte auch die zuständige Bürgermeisterin Isabel Fezer (FDP) klar.

Außerdem wolle man das Angebot passgenauer auf den Bedarf der Eltern, aber auch der Kinder zuschneiden. Stuttgart folgt mit diesem Ansatz anderen Kommunen nach. So hat etwa Tübingen sein Kitaangebot mittlerweile vor allem auf die 30-Stunden-Variante ausgerichtet und bietet nur noch wenige 40-Stunden-Kitas an.

Eltern, Träger, Politik einbeziehen

Allerdings will Stuttgart nicht – wie ebenfalls andernorts geschehen – die neuen Zeiten einfach festlegen, sondern in verschiedenen Gremien und Foren alle Beteiligten in diesen Prozess einbeziehen: freie Träger von Kitas, Elternvertreter, die Aufsichtsbehörde KVJS, Vertreterinnen und Vertreter der Fraktionen und auch externe Expertinnen und Experten zu diesen Themen.

Ein erster Schritt werde unter anderem sein, sich in Ruhe anzusehen, welche städtischen Kitas in welchen Stadtteilen geeignet sind, 40-Stunden-Angebote in enger Absprache mit Eltern in 30- oder 35-Stunden-Plätze umzuwandeln, sagte Susanne Heynen unserer Zeitung. So sollen Stunden und Personal frei werden, um weitere Plätze vor Ort zu schaffen. Oliver Herweg gab folgendes Beispiel: Eine Krippengruppe hat normalerweise zehn Plätze. Reduzierten in mehreren solcher Gruppen Eltern den zeitlichen Umfang, werde Personal frei, mit dem dann eine weitere Gruppe aufgemacht werden könnte.

Stadt will keinen Druck auf Eltern ausüben

Dass Eltern unter Druck geraten könnten, Stunden abzugeben und dafür vielleicht sogar Arbeitszeit zu reduzieren, war eine Befürchtung, die Ausschussmitglied Luigi Pantisano vom Linksbündnis äußerte. Seiner Meinung nach benötigen die meisten berufstätigen Eltern in Stuttgart 40 Stunden Betreuungszeit. Fezer und Heynen traten dem in doppelter Hinsicht entgegen: Keiner werde unter Druck gesetzt. Nur wer tatsächlich einen geringeren Bedarf an Betreuung hat, soll reduzieren, versprach Fezer – und wurde kurz sauer: „Wir machen hier konstruktive Vorschläge und bekommen von Ihnen nur Ablehnung!“

Die Verwaltung ist überzeugt, dass viele, die derzeit einen Ganztagsplatz gebucht haben, dies nur aus Mangel an Alternativen tun. Das bekäme das Jugendamt von Trägern im Krippenbereich gespiegelt, aber das belegten auch die Daten des Statistischen Amtes der Stadt und Studien. In einer Umfrage 2021 zeigte sich beispielsweise, dass in Stuttgarter Haushalten mit Kindern unter drei Jahren nur 27 Prozent der Mütter erwerbstätig waren, die Mehrheit in Teilzeit. Eine Ausnahme sind Alleinerziehende. Eine Erhebung unter Eltern mit Kindern bis zum Grundschulalter zeigte, dass nur 13 Prozent der Paare beide in Vollzeit arbeiteten.

70 Prozent suchen maximal 35 Stunden Betreuung

Auch im Kinderbetreuungsreport 2022 des Deutschen Jugendinstituts zeigt sich zumindest für ganz Baden-Württemberg: 70 Prozent der Eltern mit Kindern im Krippenalter, die einen Kitaplatz brauchen, suchen einen bis zu maximal 35 Stunden. Wobei der Bedarf an längeren Zeiten in Großstädten erfahrungsgemäß höher ist.

Aber die Stadt will auch den Bewerbungsprozess verändern: Bei der Platzvergabe spielen schon jetzt Kriterien wie etwa Arbeitsumfang der Eltern, ob jemand alleinerziehend ist, der Förderbedarf eines Kindes eine Rolle. In Zukunft soll anders gewichtet werden, kündigte die Jugendamtsleiterin an. „Wir gucken genauer, wie der reale Arbeitsumfang der Eltern ist. Und das Alter der Kinder soll stärker gewichtet werden.“ In Stuttgart gibt es Hunderte Kinder mit vier Jahren und älter, die keinen Kitaplatz haben. Sie sollen bevorzugt behandelt werden.

Die Vertreter der freien Träger im Ausschuss zeigten sich offen für die Ideen. Über die Arbeitsgruppe Fachkräftemangel waren sie darüber ohnehin schon im Austausch mit der Stadt. In Zukunft sollen sie Teil der Projektlenkung sein. Auch Sebastian Wiese, der die Konferenz der Gesamtelternbeiräte im Ausschuss vertritt, kündigte an, den Prozess begleiten zu wollen – solange die Eltern hinreichend einbezogen würden.

Die Rätinnen und Räte waren geteilter Meinung. Luigi Pantisano fühlte sich überrumpelt von den Ideen, die den Räten nicht vorab geschickt worden waren, wie das bei anderen Themen im Ausschuss meist der Fall ist. Er befürchtet, dass das Kitaangebot unterm Strich schrumpfen wird. SPD-Kollegin Jasmin Meergans hätte sich ebenfalls eine Vorab-Info gewünscht und mahnte an, auch Arbeitgeber und Gewerkschaften einzubeziehen und in dem neuen Verfahren vor allem Kinder aus prekären Verhältnissen im Blick zu behalten. Man wolle ja gerade für diese Gruppe, die jetzt teils schwer einen Platz findet, zusätzliche Kapazitäten schaffen, betonte Heynen.

Eltern müssen auch ins Büro fahren und zurück

FDP-Rätin Doris Höh wies darauf hin, dass die reine Arbeitszeit der Eltern allein nicht der Maßstab sein kann. „Wer 30 Stunden arbeitet, muss auch ins Büro und zurück und braucht mehr Betreuungszeit“, sagte Höh. Gabriele Nuber-Schöllhammer (Grüne) hingegen freute sich über den ihrer Meinung nach „sinnvollen Weg“, auch ihr CDU-Kollege Klaus Nopper war angetan.

Wie dringend die Stadt etwas tun musste, wurde bei einem anderen Tagesordnungspunkt erneut deutlich: bei der Liste der geplanten Kita-Um- und -Ausbaumaßnahmen, die in die Etatverhandlungen 2024/25 eingebracht werden sollen. Obwohl das Jugendamt 65 Millionen Euro in mehr Plätze investieren will, wird sich, weil gleichzeitig auch die Kinderzahl steigt, die Anzahl der rechnerisch fehlenden Plätze für Kinder unter drei Jahren bis 2025 verdoppeln: auf 2300.

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