Oleksandr kann die Schubkarrenladungen nicht mehr zählen, die er aus seinem Haus geschippt hat. Foto: Till Mayer

Die Folgen der Sprengung des Kachowka-Staudamms in der Ukraine vor nunmehr fast zwei Monaten sind verheerend. In den vormals überfluteten Stadtteilen von Cherson schaufeln die Menschen giftigen Schlamm aus ihren Häusern.

Im Bad kann Victoriya die Tränen nicht mehr halten. Der Boden ist voll Erde. Der Waschbeckenunterschrank mit den goldenen Zierleisten ist aus den Leim gegangen, seine Türen hängen schief. An den Wänden ziehen sich von oben bis unten Schlammspuren. Der Gestank ist unerträglich. „Was waren wir stolz auf das schöne Badezimmer. Es war fast neu“, sagt die 55-Jährige. Dann fährt sie mit der Hand über die Wandheizung, deren Chrom mit einer bräunlichen Schicht überzogen ist.

 

Victoriya führt aus dem Haus heraus. Der Garten – ein Trümmerfeld. „Ich habe nicht einmal mehr die Kraft, auf die Russen wütend zu sein. Den Kachowka-Damm zu sprengen, was für ein Wahnsinn“, klagt sie. Das geschah am 6. Juni. Russland beschuldigt die Ukraine, den Damm beschossen zu haben. Die Indizien- und Faktenlage zeichnet jedoch ein anderes Bild – das einer Sprengung durch russische Kräfte.

4210 Wohngebäude wurden allein im Oblast Cherson zerstört

Fakt ist vor allem das ungeheuere Ausmaß der Zerstörung. Der Pegelstand des Kachowka-Stausees betrug am Tag des Unglücks 18 Milliarden Kubikmeter Wasser. Die Wassermassen wälzten sich 85 Kilometer lang längs des Dnipro bis zur Einmündung ins Schwarze Meer. Laut Angaben des ukrainischen Landwirtschaftsministeriums wurden dabei allein im Oblast Cherson 10 000 Hektar Fläche überflutet.

Der Korabelniy-Distrikt gehört zu den am meisten betroffenen Vierteln der Stadt Cherson. Hier lebt Victoriya mit ihrem Mann Oleksandr (59) und ihrer Tochter Julia (32) – besser gesagt: lebte. Das Haus ist unbewohnbar, so wie fast alle Gebäude im betroffenen Stadtteil. Die Familie ist bei Freunden untergekommen, die im höher gelegenen Teil Chersons leben. Bis zu drei Meter hoch stand das Wasser am 7. Juni im Korabelniy-Distrikt. „Das ganze Erdgeschoss war geflutet“, sagt Victoriya. Als die braunen Wassermassen abflossen, blieb der Schlamm. Und 4210 Wohngebäude, die allein im Oblast Cherson zerstört sind.

Der Raum wirkt mehr wie eine Höhle denn wie ein Zimmer

Sobald es möglich war, begannen Victoriya, Oleksandr und Julia damit, den Dreck aus dem Haus zu schaufeln. „Das wird noch lange dauern“, stöhnt Oleksandr. Er seht im Erdgeschoss, trägt feste Schuhe, blaue Arbeitshose und gleichfarbiges T-Shirt. Der Raum wirkt mehr wie eine Höhle denn wie ein Zimmer. Teile der Wand waren mit Felssteinen gemauert. Das hereinströmende Wasser hat einige von ihnen gelöst. Jetzt liegen die schweren Brocken über dem Boden verstreut. „Eine Knochenarbeit“, erklärt er und stellt sich auf einen der wackeligen Steine. Im Nachbarzimmer gibt es nur dunkles Mauerwerk, die Tapeten haben sich gelöst. Licht spendet eine Handlampe.

Victoriya steht mit kurzen Hosen und Arbeitshandschuhen in der Küche. Hier hat die Familie schon den Schlamm herausgeschaufelt. „Wenigstens dieses Zimmer ist geschafft. Das ist etwas. Als die Flut kam, konnte ich 20 Tage lang keinen richtigen Schlaf finden. Der Stress war unfassbar. Die Angst, alles zu verlieren.“ Das Heim der Familie liegt nahe am Ufer des Dnipro. Ein kleiner Damm liegt noch zwischen dem Fluss und den ein- bis zweistöckigen Einfamilienhäusern, die sich dahinter längs der parallel verlaufenden Straße ziehen. Überall sind Schutthaufen, liegt ausgeschaufelter, stinkender Morast aus den Häusern.

42 000 Menschen sollen links und rechts des Dnipro ihr Zuhause verloren haben

Ufernähe bedeutet Frontnähe. Auf der anderen Seite des Dnipro beginnen die russischen Stellungen. Keine fünf Kilometer Luftlinie liegen diese von Victoriya und Oleksandr entfernt. Geschützdonner, das gehört zum Alltag. Die 55-Jährige zeigt auf den ersten Stock ihre Wohnhauses. Dort sind Spanholzplatten in die Fensterrahmen genagelt. Ein Teil des Mauerwerks fehlt. „Am 12. Februar 2023 in den Morgenstunden schlug eine Granate in unser Haus ein“, sagt sie. „Wir dachten uns, schlimmer kann es jetzt ja nicht mehr kommen“, ergänzt Oleksandr und schüttelt den Kopf. Er hofft, dass die Flut das Haus nicht irreparabel zerstört hat. 42 000 Menschen sollen im Oblast Cherson links und rechts des Dnipro ihr Zuhause verloren haben.

Victoriya ist wieder in ihrem Garten. Sie erzählt von vor der Flut, von ihren Rosen und davon, wie ihr Mann den Grill für ein Schaschlik anwarf. Vom alten Glück ist nur noch wenig zu ahnen. Schlammverkrustet und verloren steht eine Hollywoodschaukel in all den Trümmern, die die Flut in den Garten getragen hat. Notenblätter liegen herum. Kisten, Bretter, Kleidungsfetzen und ein aschgraues Stofftier, dessen ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen ist. „Das alles hier stammt nicht von uns. Das hat die Flut gebracht“, erklärt Victoriya.

20 000 Wildtiere starben in den Fluten

Mit den Fluten schwammen Tierkadaver, fast 100 000 Tonnen toter Fisch, 150 Tonnen Öl, Chemikalien von Fabriken und landwirtschaftlichen Düngelagern. Auch Landminenfelder wurden ausgewaschen. Die Sprengsätze sind jetzt im gesamten ehemals überfluteten Gebiet verteilt.

Das ukrainische Gesundheitsministerium berichtete unter anderem, dass durch das Hochwasser Chemikalien und Krankheitserreger Brunnen und Gewässer kontaminieren. Untersuchungen der Wasserqualität belegten, dass die Überschwemmung Schadstoffe aus dem Boden herausgewaschen hat. Die Kontamination reicht bis ins Schwarze Meer. Laut der Regionalverwaltung von Odessa kam es zu einem Massensterben von Meereslebewesen. Der ukrainische Umweltminister Ruslan Strilez schätzt, dass etwa 20 000 Wildtiere durch die Flut starben – darunter viele vom Aussterben bedrohte Arten. Gleich nach der Flut sprachen ukrainische Behörden ein kategorisches Verbot für den Verzehr von Fischen aus den betroffenen Regionen aus. So soll der Gefahr der Nervenvergiftung Botulismus begegnet werden. Die Folgen der Überflutung sind in ihrem gesamten Ausmaß noch nicht übersehbar. Auch weil Daten aus den russischen besetzten Gebieten fehlen. Oleksandr kann angesichts all dessen nur noch seufzen: „Jahr für Jahr haben wir für unser Haus geschuftet. Es Zimmer um Zimmer schön gemacht.“ Oleksandr arbeitet in einer Reparaturwerkstatt für Autos. Doch in der Stadt leben vielleicht noch 20 Prozent der ursprünglichen Bevölkerung. „Viele Kunden sind es nicht mehr. Ab und an Soldaten, die ihre Fahrzeuge reparieren lassen. So können wir nicht genug verdienen, um das Haus wieder auf Vordermann zu bringen“, sagt Oleksandr. Er hofft auf Aufbauhilfe vom Staat. Bis jetzt, sagt er, warte er da vergeblich. Immerhin schaut gerade ein Helfer vorbei: Vlad von der lokalen Organisation Support Kherson bringt einen ganzen Schwung Mineralwasserflaschen vorbei. „Damit lässt es sich besser arbeiten“, sagt er lachend. Der korpulente Mann trägt Helm und schusssichere Weste. „Die Russen schießen auch auf Helfer“, sagt Vlad. Selbst als Freiwillige die Flutopfer in Booten retteten, seien sie beschossen worden. Vlad verteilt regelmäßig Wasser im Korabelniy-Distrikt. Die Wasserhähne dort sind versiegt.

Helfer gibt es zum Glück viele

Das Wasser holt er im Stadtzentrum ab. Dort lagern in einem großen Saal die Hilfsgüter – Altkleider, Medikamente, Nahrungsmittel. Eine Frau findet ein Paar Schuhe. Ein Junge hat bei den Altkleidern zwei rosafarbene Hasenohren gefunden und sich auf den Kopf gesetzt. Er springt zwischen Kartons und Kleiderhaufen herum, während seine Mutter versucht, passende Hosen und Hemden zu finden.

Die Helfer lachen, als sie den Jungen sehen. Helfer gibt es zum Glück viele: vom Roten Kreuz bis zu lokalen Initiativen. Doch die Flutopfer werden einen Aufbaufonds benötigen, um ihre beschädigten Wohnungen und Häuser wieder herzurichten. 37 Siedlungen, davon 17 im russisch besetzen Gebiet, waren überflutet. Allein im Oblast Cherson haben bisher 1424 Familien Hilfen bei staatlichen Stellen der Ukraine für den Wiederaufbau beantragt. Die Höhe des gesamten Schadens ist noch ungewiss. Wie so vieles in diesem zerstörerischen Krieg.