„Glaubt ihr, ihr seid die Einzigen, die darunter leiden? Ich habe meinen ersten Urlaub seit fünf Jahren nicht angetreten“, sagte Gouverneur Denis Pasler gegenüber Demonstranten in Orsk Foto: imago/Itar Tass/Mikhail Sinitsyn

Nach dem Dammbruch am Ural wollen die Menschen Antworten von der Regierung. Der Gouverneur weist jegliche Verantwortung von sich. Die Überschwemmung in Orsk ist ein Beispiel dafür, wie losgelöst die Mächtigen von ihrem Volk sind.

Während das Wasser noch in den Straßen von Orsk steht und sich nur langsam zurückzieht, versammeln sich mehrere Hundert Menschen am Montagabend vor der Verwaltung der Stadt. Eine Lenin-Statue thront vor dem Theater hinter ihnen, die Tram ruckelt am Platz der Komsomolzen vorbei. Hierher hat es der Ural nicht geschafft, der einige Kilometer weiter wegen eines mehrfachen Dammbruchs knapp 7000 Häuser in dieser Industriestadt an der Grenze zu Kasachstan überschwemmt hatte. „Wir wollen nur eins wissen: Was wird aus unseren Häusern? Was wird aus uns?“, schreit eine Frau fast. „Wie sollen wir weiterleben? Wer übernimmt die Verantwortung?“, fragt ein Mann. Sie sind wütend, weil sie sich auf sich allein gestellt fühlen. Die Behörden hatten die Menschen gewarnt, bloß nicht bei einer „nicht sanktionierten Versammlung“ mitzumachen. Vor dem ansteigenden Wasser des Urals warnten sie die Menschen dagegen zu spät. Es ist dieser Unmut, der die Orsker auf die Straße treibt, in einem Land, in dem Demonstrieren gefährlich ist und Fragen unerwünscht sind.

Wütende Menschen in Orsk

Die Frauen und Männer umkreisen Wassili Kosupiza, wollen Antworten von ihrem Bürgermeister. Er war es, der sie noch am vergangenen Mittwoch völlig gelassen zur Ruhe bringen wollte. Der Damm werde schon halten, es gebe keine Gefahr, hatte dieser gesagt. Keine zwei Tage später stand die Altstadt von Orsk komplett unter Wasser. Kosupiza kommt bei diesem spontanen Protest kaum zu Wort. Antworten kann er nicht liefern. „Verschwinde“, schreien die Menschen. „Tritt ab!“, „Schande!“.

Orsk ist eine politisch verschlafene Stadt. Wenn hier Menschen auf die Straße gehen, dann sind es keine Forderungen nach mehr Freiheiten und Menschenrechten, es geht ihnen schlicht ums Überleben. Es geht um ein Dach über dem Kopf – und doch auch um etwas Politisches: Die Verantwortung dafür, dass hier trotz Bedenken, auch aus dem benachbarten Kasachstan, offensichtlich vieles schiefgelaufen ist. Deshalb fordern sie den Rücktritt ihres Bürgermeisters.

Kein Mitgefühl für die Notleidenden

Die Mächtigen aber sind in der Kommunikation mit den Menschen kaum geübt. Wie losgelöst sie von den Problemen des aufgebrachten Volks sind, zeigt sich auch, als Denis Pasler, der Gouverneur des Gebietes Orenburg, zu Demonstranten in Orsk spricht. „Das sind halt die Bedingungen, unter denen wir leben. Es gab den Herbst, den Winter, den Regen und jede Menge anderer Faktoren“, sagt er. Eine „unkontrollierbare Horde“ aber wolle „einen einzigen Verantwortlichen finden“, meint er. Diesen „Einzigen“ werde es nicht geben. „Wir sind alle schuld. Jetzt sollten wir uns als echte Patrioten vereinen, das überstehen und als stärker Gewordene da rausgehen.“ Es sind anmaßende, ja verächtliche Floskeln, die weder Verständnis noch Mitgefühl für das Leid der Menschen ausdrücken. Pasler schaut starr ins Gesicht der Notleidenden und sagt herablassend: „Glaubt ihr, ihr seid die Einzigen, die darunter leiden? Ich habe meinen ersten Urlaub seit fünf Jahren nicht angetreten, bin hier bei euch, hatte keine Zeit, mich zu waschen, mich umzuziehen. Der ganzen Region geht es nicht gut.“

Entwertung und Bagatellisierung der Sorgen von anderen sind alltäglich in Russland. Eine Schuld will niemand eingestehen, aber einen Schuldigen finden will jeder. Pasler verspricht, dass „alles wiederhergestellt“ werde, sagt, Kompensationen würden ausgezahlt. Was seine Sätze konkret bedeuten, wird keinem klar. „Wo liegen denn diese Listen aus, von denen sie alle sprechen? Wo kann ich mich eintragen, damit ich wenigstens die 50 000 Rubel (umgerechnet 500 Euro) für mein verlorenes Vermögen bekomme? Ich werde von einer Notunterkunft zur nächsten geschickt“, schreibt eine Julia in einem Orsker Chat.

Die Wasserpegel steigen derweil weiter. Nun nicht mehr in Orsk, sondern weiter westlich. Das Wasser zieht in die Gebietshauptstadt Orenburg, deren Bürgermeister seinen Einwohnern immerhin deutlich sagt: „Es wird so schlimm wie nie.“