Die Schleyerhalle brennt: Tyler Joseph in Aktion Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Voll am Puls der Zeit und auch ohne Gitarre ein Ereignis: Das US-Duo Twenty One Pilots hat in der ausverkauften Schleyerhalle mit schnittigem „Schizoid Pop“ begeistert.

Stuttgart - Schon immer funktioniert die Popkultur auch als zuverlässiger Seismograf für gesellschaftliche Transformationsprozesse. Quasi universell taktet längst das Internet unsere Existenz im Echtzeit-Modus – und Bands wie die Twenty One Pilots sind es, die den Soundtrack zum Lebensgefühl der Generation Whatsapp liefern. Wie moderne Musik am Puls der Zeit klingt und in eine stylishe Bühnenshow verpackt wird, hat das amerikanische Duo am Sonntagabend in der ausverkauften Stuttgarter Schleyerhalle gezeigt: temporeich, atemlos, immer in Bewegung, immer auf dem Sprung in die Zukunft.

Dabei gerät der Auftakt zunächst eher endzeitlich düster. Das Wrack eines alten Straßenkreuzers hebt sich aus dem Bühnenboden empor, Sekunden später wird es von Flammen umzüngelt. Tüchtig vermummt, mit Sturmhaube und Fackel, betritt dazu der Schlagzeuger Josh Dun die Bühne. Sein Partner Tyler Joseph, zuständig für Gesang, Bass und allerlei mehr, folgt gemessenen Schrittes im Camouflage-Look: theatralischer Auftakt einer Show, die anschließend zwei Stunden lang einen Reiz nach dem anderen auf ihr Publikum abfeuert.

Viel Zirkus – aber auch viel Substanz

Ein höchst erfolgreiches, mit allerlei Mythen und Codes aufgeladenes Oeuvre haben Twenty One Pilots seit 2009 angehäuft – in der Schleyerhalle lässt sich dieser Mummenschanz in ganzer Pracht besichtigen. Zwei Figurenlogos, halb Alien, halb Skelett, dienen als Identifikationssymbole, dazu durchzieht ein vermeintlich bedeutungsschwerer Farbcode das Werk der Band. Nach längerer „Rot“-Phase ist man mit dem im vergangenen Herbst erschienenen Album „Trench“ nun bei Kanariengelb angekommen und spart nicht mit ebensolchem Konfettiregen. Für das 2015er-Album erschuf Joseph schließlich ein alter ego namens „Blurryface“, eine Kunstfigur, die als Blitzableiter für Themen wie Depression, Isolation, Versagensängste oder die Tücken des Erwachsenwerdens dient.

Das ist zwar alles ein bisschen viel an bedeutungsschwangerer Inszenierung, dystopischer Atmosphäre und martialischer Optik, aber Eindruck macht es allemal – zumal Dun & Tyler ihr Set mit Verve auf die Bühne zaubern. Ohne jegliche Unterstützung stemmt das Duo seine Show, hält das Tempo hoch und greift von Beginn an tief in die Trickkiste. Eben noch auf der Bühne im Rampenlicht, taucht Tyler Joseph plötzlich wie von Zauberhand mitten in den Sitzplatzrängen auf, mal performt er auf einem meterhohen Gerüst in der Hallenmitte, springt auf sein Klavier oder zeigt sich publikumsnah als Meister in Sachen Crowdsurfing und Stagediving.

Als ziemlich hyperaktiv entpuppt sich auch Josh Dun. Oben ohne trommelnd, zeigt er, wie spannend ein Drumset klingen kann, er füllt immer wieder die Lücken zwischen den tragenden Grooves mit kleinen Zwischenbeats und streut nebenbei lässig einen Salto rückwärts ein. Hip-Hop, Rap, Elektropop und mittlerweile viel synthetischer Reggae verschmelzen so zu einer Art punkigem Perkussion-Rock, der verblüffenderweise auch ohne Gitarre prachtvoll funktioniert. Mehr noch: Erst deren Abwesenheit macht diesen „Schizoid Pop“, wie Twenty One Pilots ihren Stil selbst bezeichnen, eigenständig und überraschend vielseitig.

Noch viel Luft nach oben

Zwar liegt auf den Gesangsstimmen immer mal wieder der typische Stimmverfremdungseffekt der Pop-Moderne, aber über weite Strecken groovt dieser Sound jenseits der gängigen Genreklischee. In Songs wie „We don’t believe what’s on TV“ und „Heathens“ rückt eine Ukulele ins Zentrum, und oftmals irrlichtern trickreiche elektronische Störgeräusche aus dem Computer durch die Klangkulisse. Mit viel Kreisch-Alarm feiert ein textsicheres Stuttgarter Publikum – im Durchschnitt an der Grenze zwischen Teen und Twen – denn auch einen Abend, der von „Stressed Out“ bis hin zu „Car Radio“ und „Chlorine“ alle Band-Highlights versammelt und eine Zugabe schlicht nicht nötig hat.

Gegen 23 Uhr und nach „Trees“ als furiosem Finish: tosender Beifall für den Leistungsnachweis eines Duos, das seinen Karrieregipfel noch längst nicht erreicht hat und schon bald zum nächsten Karrierehoch weitersegeln könnte.