Nach 154 Ausgaben mit ihm als Moderator passiert an diesem Samstag das Unfassbare: Thomas Gottschalk verlässt „Wetten, dass . .?“. Endgültig, sagt der 73-Jährige. Ein Ab-, Lob- und Klagegesang auf eine Fernsehlegende.
Wer die Spuren des Lebens sucht, findet sie leichter im Gesicht anderer als in jenem, das man täglich im Spiegel sieht. Alterung ist kein Rollkommando, sie schleicht sich still und heimlich in unsere jugendwahnsinnige Gesellschaft. Wie hungrig die Zähne der Zeit dabei selbst an jungen Ex-Wilden nagen, lässt sich am Samstagabend gut an einem frühzeitig ergrauten Fußballweltmeister ablesen.
Umso angenehmer, dass Bastian, genannt Schweini, Schweinsteiger, im ZDF-Gehege reifer Platzhirsche neben zwei Zwölfendern Platz nimmt, die sich dem Witterungsprozess widersetzen: Thomas, genannt Tommy, Gottschalk und Cherilyn, genannt Cher, Sarkisian. Genotypisch jenseits der 70, phänotypisch diesseits der 60, erinnern sie ihr Publikum nur durch die Lupe daran, wie viel Wasser den Rhein heruntergeflossen ist, seit Erstgenannter am 4. April 1987 als Zeremonienmeister der fettesten Fernsehshow Europas – ach was, der Galaxie – begann.
Satte 154 Einsätze in vier Jahrzehnten später ist der „goldene Bub“, wie Martin Walser ihn mal nannte, immer noch da, wo er sich offenbar heimischer fühlt als in Bamberg und Florida zusammen: Samstag 20.15 Uhr, Zweites Deutsches Fernsehen, „Wetten, dass . .?“, unverwüstlich! Aber unvergänglich? Nach dem 6. Auftritt von Cher, dem 7. von Jan Josef Liefers, dem 1. der klugen Hündin Ani und dem 671. eines weiteren Baggerfahrers tritt Tommy zwischen Mitternacht und Morgengrauen ab. Endgültig, sagt er. Glauben wir’s ihm mal.
Peter Maffay sang von Sonnen in der Nacht, Iris Berben wettete gegen Kranfahrer
Denn die Zeit, sie ist reif. Und auch, wenn sie, nein: nicht komplett spurlos, aber doch sehr barmherzig an ihm und der Sängerin vorbeigezogen ist, haben sich die Zeiger der Uhren ringsum weitergedreht. Als Cher in Gottschalks dritter Sendung auftrat (und mangels Textilien Aufsehen erregte), hieß Scholz noch Kohl, Berlin noch Bonn, Twix noch Raider, und Telefone nannte man einfach Telefone, nicht Smartphones.
Nach alter Rechtschreibung lockte „Wetten, daß . .?“ seinerzeit siebenmal jährlich das halbe Land (und Großteile der DDR) in Polstergarnituren, um dort zu gewürzten Snacks und Zuckerbrause auf Röhrenfernseher zu starren. Dazu sang Peter Maffay von Sonnen in der Nacht, Iris Berben wettete gegen Kranfahrer, und nach drei, vier Stunden war das liebste Lagerfeuer der Generationen Adenauer bis X erloschen.
Noch Fragen? Die Generationen Z bis Alpha hätten da einige.
Röhrenfernseher, TV – was ist das?, fragt die Generation Z
Wer Peter Maffay und was ein Röhrenfernseher ist? Auf welcher Baustelle Iris Berben arbeitet und wofür dieses komische Kürzel TV steht – Textverarbeitung, Teravolt, die Internetdomain Tuvalus? Alles richtig. Youtube-Videos früherer Folgen allerdings ließen auch auf „Trachtenverein“ schließen. Fast 25 der 42 Jahre ihrer Existenz hat die Sendung schließlich ein blond gelockter Tambourmajor moderiert, dessen Operettenuniform selbst aus der Schulterpolsterepoche hervorstach wie heutzutage eine Dokumentation aus der Primetime.
Statt siebenmal jährlich hat er seine Hand zuletzt nur alle zwölf Monate aufs Knie geladener Schauspielerinnen gelegt. Und wenn er Frank Elstners Quotenrekord von annähernd 24 Millionen Zuschauern an diesem Samstagabend halbiert, wäre es bereits ein Riesenerfolg. Aber gut – 1985 gab es ja auch keine 20 Videoportale, sondern zwei Privatsender, und Netflix, Touchpad, Tiktok haben die Welt der Medien noch radikaler gewandelt als jene Welt, die von den Medien – ob alten oder neuen – nur abgebildet wird.
Der Entertainmentunfall Markus Lanz
Selbst für Digital Natives genannte WWW-Gewächse ist es da zuweilen tröstlich, dass ein paar Konstanten nicht nach fünf Jahren schon wieder zur Steinzeit gehören. StudiVZ, iPod, CD – als nach Samuel Kochs Wettunfall 2010 der Entertainmentunfall Markus Lanz übernahm, waren das noch heiße Techniktrends.
Und jetzt? Sind Facebook, Wii, DVD schon wieder von gestern, aber wer ist auch heute noch da, selbst wenn er morgen ZDF-Geschichte sein wird? Genau!
Abrupt aufhören wie ehedem sein bieder-cooles Vorbild Hans-Joachim Kulenkampff, will Gottschalk laut eigener, erfrischend unbescheidener Aussage im „Zeit“-Interview zwar nicht, „solange kein anderer es besser macht“. Aber kürzertreten, das dürfte er mit 73 Jahren auf dem beneidenswert graden Buckel vermutlich schon. Und damit ein Riesenloch, ach was: einen Krater, reißen ins Feierabendprogramm.
Massenunterhaltung zum Mitschunkeln
Den Grund gab der selbsterklärte „Hanswurst“ keinem Geringeren als dem „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo zu Protokoll. Weil er samstags nach der „Tagesschau“ zwar niemanden „klüger oder besser gemacht“ habe, aber „Menschen entkrampft“ und somit „geschafft, dass Enkel und Großväter zusammen auf dem gleichen Sofa saßen“. Für etwas, das der tief gespaltenen Gesellschaft heute zusehends schwerfällt: Konsens.
Massenunterhaltung zum Mitschunkeln, auf die sich alle einigen können. Selige Zeiten. Denn merke: Erst wenn der letzte Fernsehbaum gefällt ist, werdet ihr merken, dass „Wetten, dass . .?“ mit Jan Böhmermann zum Vergessen wäre. Der Tommy dagegen bleibt mit oder ohne Cher fast allen in Erinnerung. Mal sehen, wie alt sich viele morgen beim Blick in den Spiegel so fühlen.
Wetten, dass . .?: Samstag, 20.15 Uhr, ZDF
Gäste, Moderatoren, Rekorde
Finale
Ob „Wetten, dass. . .?“ nach der 218. Ausgabe – die 9. in Offenburg – endet, bleibt vorerst offen. Aber Michelle Hunziker ist schon mal nicht mehr dabei. Ebenso wie andere Stammgäste. Mit 17 Auftritten hält Peter Maffay den Rekord, dicht gefolgt von Herbert Grönemeyer und Udo Jürgens (15) vorm Jungspund Robbie Williams (13). Erfunden wurde die Sendung Moderiert wird die Sendung 1981 von Frank Elstner, der sie 39 mal moderierte.
Niedergang
Sechs Jahre später wird er von Thomas Gottschalk abgelöst, der 1992 für neun Folgen in an Wolfgang Lippert übergibt, bevor ihn Samuel Kochs Unfall Ende 2011 zum Rück-tritt bewegt. Die Quote liegt da aber bereits unter zehn Millionen und stürzt bei Markus Lanz (16 Ausgaben) bis 2014 weiter ab, was sein Vorgänger Gottschalk als Nachfolger 2021 nur unwesentlich steigert.