Einbruch und Ausstieg im Teamfinale: Simone Biles Foto: AFP/Loic Venance

Die Jahrhundertturnerin Simone Biles, in Rio viermalige Olympiasiegerin, steigt im Teamfinale von Tokio früh aus. Unter Tränen begründet sie ihren Rückzug mit Angst um ihre mentale Gesundheit.

Tokio/Stuttgart - Als Simone Biles am Dienstag ihren Auftritt beim olympischen Teamwettbewerb abgebrochen und die Turnhalle in Tokio verlassen hatte, geisterten die Spekulationen schnell durch die Sozialen Netzwerke. Der US-Verband lieferte zunächst „medizinische Gründe“ als Erklärung für das Aus des Turn-Superstars nach einem verpatzten Abgang beim Sprung, dem ersten von vier Geräten. Biles selbst sorgte später aber für Klarheit und gab einen tiefen Einblick in ihr Innenleben.

 

Ob Simone Biles die Spiele beendet ist offen

„Wenn ich turne, habe ich weniger Selbstvertrauen als früher, weniger Spaß und bin nervöser. Es ist Mist, wenn man mit seinem eigenen Kopf kämpft“, sagte die 24-Jährige unter Tränen. „Ich musste tun, was richtig für mich ist und mich auf meine mentale Gesundheit fokussieren und nicht mein Wohlbefinden gefährden.“ Ob sie wie geplant beim Mehrkampf-Finale am Donnerstag (12.50 Uhr MESZ) oder den vier Gerätefinals, die zwischen dem 1. und 3. August ausgetragen werden, antritt, ist derzeit offen.

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Scheitert die US-Amerikanerin bei ihrem Versuch, olympische Geschichte zu schreiben, an dem enormen Erwartungsdruck? Der Verdacht liegt nahe. Eine Ahnung davon, unter welch großer psychischer Belastung die US-Amerikanerin in der laufenden Endphase ihrer grandiosen Karriere leidet, gab bereits die Ankündigung der Verschiebung der Spiele im vergangenen Jahr. „Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Ich saß einfach nur da und weinte“, sagte die mit 25 WM-Medaillen dekorierte Turnerin damals. 2020 sollte eigentlich schon ihr letztes Jahr werden mit diesem erbarmungslosen Training, den zunehmenden Blessuren und den unmenschlichen Erwartungen von allen Seiten.

Simone Biles sollte olympische Geschichte schreiben

Nach vier Olympiasiegen 2016 in Rio de Janeiro sollte Biles Geschichte schreiben, in Tokio alle sechs erreichbaren Goldmedaillen holen und damit die Ukrainerin Larissa Latynina, die zwischen 1956 und 1964 neun Olympiasiege für die Sowjetunion gefeiert hatte, übertrumpfen. „Im Moment habe ich wirklich das Gefühl, dass ich das Gewicht der ganzen Welt auf den Schultern trage“, hatte Biles bereits nach ihrem wackligen Auftritt in der Qualifikation in Tokio offenbart.

Die 1,42 Meter kleine Jahrhundertturnerin ist die zweite Athletin von Weltrang, die eine psychische Problematik zu einem öffentlichen Thema macht. Es schlug schon bei Naomi Osaka hohe Wellen, als die viermalige Grand-Slam-Siegerin vor wenigen Wochen erklärte, dass sie seit den US Open 2018 immer wieder unter Depressionen leide. Japans Tennis-Superstar erhielt nach ihrem damaligen Ausstieg aus den French Open großen Zuspruch, vor allem von Kolleginnen. Erst zu den Olympischen Spielen in ihrem Heimatland nahm sie nun wieder einen Schläger in die Hand – und schied am Dienstag im Achtelfinale mit 1:6, 4:6 gegen die stark spielende Tschechin Marketa Vondrousova aus. „Ich habe definitiv das Gefühl, dass es eine Menge Druck gab“, sagte Osaka.

Schwächen zeigen ist verpönt

Auch Ausnahmeathletinnen und – athleten müssen den Preis für ihren Erfolg mit mentalen Belastungen bezahlen. In der glitzernden und erfolgsorientierten Welt des Spitzensports sind Schwächen allerdings verpönt. Psychische Probleme werden häufig verschwiegen, während zugleich psychologische Hilfe im Leistungssport immer häufiger in Anspruch genommen wird.

Möglicherweise muss man erst ganz oben ankommen, um im Hamsterrad Spitzensport Schwächen zuzugeben und zuzulassen. So wie Naomi Osaka und Simone Biles. „Es ist okay, nicht okay zu sein“, schrieb Osaka kürzlich in einem Beitrag im „Time Magazine“. Und Biles befand nun in Tokio, Athleten seien eben „nicht einfach nur Athleten – am Ende des Tages sind wir Menschen“.