Eine chinesische Mauer? Gibt es auch auf der Seebühne in Bregenz Foto: dpa

Auf der größten Seebühne der Welt hat eine neue Ära begonnen. Elisabeth Sobotka hat David Pountney als Intendantin abgelöst, und Marco Arturo Marelli schafft als Bühnenbildner und Regisseur mit opulenten Bauten ein Spektakel für die Augen. Musikalisch ist allerdings noch Luft nach oben.

Bregenz - Die chinesische Mauer im Bodensee ist 72 Meter lang und besteht aus 29 000 Einzelteilen. 59 Lautsprecher wurden ihr eingebaut, und sie schlängelt sich von links nach rechts wie ein Drache. Hinter und vor der Mauer sieht man 205 Nachbildungen von Kriegern der berühmten Terrakotta-Arme; während die hinteren zu schweben scheinen, versinken die vorderen halb im Wasser. Die gesamte Bühne ruht auf 119 Holzpfählen, ihr spektakulärster Ort ist eine schräg gestellte Scheibe in der Mitte, die sich hochklappen und als Projektionsfläche benutzen lässt – die LED-Wand ist bestückt mit 1072 Platinen. Auf den Zuschauer-Tribünen sitzen jeden Abend 6890 Besucher. Bis Ende August werden gut 200 000 Menschen die Produktion gesehen haben, und ganz gleich, wie sie Details dieser „Turandot“ beurteilen – ein Staunen wird immer dabei sein.

Aufführungen auf der Bregenzer Seebühne bieten immer Superlative. Der Aufwand, der hier vor allem für die Bühnenbilder betrieben wird, macht sich an Zahlen fest, die man sonst nur von Musicalproduktionen kennt, und tatsächlich haben die Opern hier immer auch etwas Spektakuläres, manchmal auch Plakatives. Zuallererst sollen die Augen des Publikums überrascht, nein: überwältigt werden, und für den Rest sorgt eine Audio-Übertragungsanlage, die den nebenan im Festspielhaus entstehenden Orchesterklang so mit den Sängerstimmen zusammenbringt, dass man die Akteure akustisch auf der Bühne verortet, obwohl sie über Lautsprecher zu hören sind, und dass man rundum umgeben wird von differenzierten instrumentalen Aktionen.

„Ich will Turandot!“

Bei „Turandot“ beginnt das jetzt nicht erst beim Fortissimo-Einsatz der Orgel, deren Klänge sich wie in der Kirche von hinten über die Zuschauerreihen wölben, sondern es hebt schon mit den ersten Akkordschlägen an. Kantig sind dise, schneidend, brutal, und dass Marco Arturo Marelli hier seine chinesische Mauer auseinanderbrechen lässt, ist ein Initial von so mächtiger Wirkung, dass man glatt das Andere, Kleine, weniger Pompöse übersehen könnte, das ebenfalls auf der Bühne ist. Noch bevor die Musik beginnt, hat der Regisseur nämlich einen kleinen Mann im grauen Anzug in ein kleines blaues Zimmerchen geschickt, das er vor die große Mauer gebaut hat; dort sitzt er dann neben Bett und Klavier in einem Sessel, hält sich den Kopf.

Später wird dieser Mann Calaf sein, der Prinz, der am Ende die eiskalte Prinzessin Turandot zum Glühen bringt. Gleichzeitig ist er aber auch Giacomo Puccini, der krebskranke Komponist, der um das Finale einer Oper ringt, die er nicht mehr selbst vollenden wird. „Ich will Turandot!“, singt Calaf einmal. Dabei hat er die Partitur unter dem Arm, und nie gleicht er seinem Schöpfer mit all seiner Sehnsucht mehr als in diesem Augenblick. Damit hat es sich dann aber auch fast schon mit dem Regietheater. Die letzte Konsequenz seiner Doppelfiguren-Idee, nämlich die Bühnenfigur sterben zu lassen, wagt Marelli nicht.

Lieber gibt er der Seebühne das, was die Seebühne vor allem will: Dekoration. Die Statisten auf der Bühne, die den szenischen Part des ebenfalls aus dem Off (und sehr gut!) singenden Prager Philharmonischen Chors übernehmen, erscheinen in unterschiedlichsten Gewandungen als Krieger, Landleute, buntes (Party-)Volk, und sie agieren oft choreografisch mit synchronen Bewegungen. Zu sehen sind kämpfende Samurai, geschwungen werden bunte Bänder, die man aus der rhythmischen Sportgymnastik kennt, der Bühnenraum ist voll und bunt und schön. Natürlich wird der enthauptete Körper jenes persischen Prinzen, der sich als Letzter vergebens um Turandots Hand bewarb, mit Aplomb vom Turm in den Bodensee geworfen, und natürlich hat die Prinzessin ihren ersten Auftritt in einer romantisch beleuchteten Dschunke. Wenn sich die runde Spielfläche aufklappt, projiziert Arin Kitzig darauf das monumentale Gesicht jener gedemütigten Ahnin, deren Schicksal Turandot zur Männerhasserin machte; als Kalaf die Rätsel löst, gehen Risse und Flammen durch das Videobild. Das sieht toll aus.

Verloren und fern wirken die Protagonisten mitten im bunten Prunk

Das Kammerspiel, das „Turandot“ auch ist, kommt dabei nicht wirklich zum Zuge, aber dies ist wohl weniger dem Regisseur als dem Leitungsteam vorzuwerfen. Nimmt man diese Oper ernst, dann ist ihr Transfer ins Monumentale, der einer Inszenierung auf der Seebühne immer anhaftet, nämlich ebenso falsch wie ehedem jener von Giuseppe Verdis ja auch nicht nur triumphmarschierender „Aida“. Verloren und fern wirken die Protagonisten mitten im bunten Prunk, und der tatsächlich psychologisch schwierige Schluss mit der plötzlichen Kehrtwendung Turandots weg von Hass und Kälte und hin zu Liebe und sozialer Nähe wirkt, auch wenn die Prinzessin als Zeichen ihrer Öffnung hier ein Kleid nach dem anderen ablegen darf, noch unglaubwürdiger als sonst. Mittig und ein bisschen verloren stehen Riccardo Massi als Calaf, ein Tenor mit strahlender, kerniger Stimme, der aber viel zu oft stemmt und drückt und Spitzentöne von unten anschleift, und Mlada Khudoley als leider stark tremolierende Turandot auf der Bühne, und sänge Guanqun Yun nicht so hingebungsvoll und mit so wunderklaren Höhentönen die Liù, so hätte man sie manchmal kaum wahrgenommen.

Dadurch entstehen Längen, und man bemerkt die Schwächen, die das Stück auch hat. Äußerlich bewegt sich viel, aber innerlich kaum etwas, und das bewegliche Außen hat etwas sehr Berechenbares. Dass Gleiches auch für die Wiener Symphoniker unter Paolo Carignani gilt, wäre vermeidbar gewesen, wenn der Dirigent nicht nur auf die präzise Ausformulierung von Details, sondern auch auf weite Spannungsbögen geachtet hätte. So aber wirkt das Orchesterspiel wie eine Aneinanderreihung schöner Einzelereignisse, und das Drama im Graben bleibt ebenso unterbelichtet wie etwa das theatralische Potenzial, das man aus den drei Commedia dell’Arte-Figuren Ping, Pang und Pong hätte schlagen können. Als Revueboys bleiben sie unterbelichtet: Figuren für die Galerie. So fehlt dem sentimentalen Zuviel des Stücks das Gegengewicht. Dieses erst aber bringt den wahren Genuss.