Klicken Sie sich durch die besten Zitate des Abends. In unserem Video-Mitschnitt können Sie die Diskussion noch einmal anschauen. Foto: Leif Piechowski

Sechs Kandidaten haben sich beim Treffpunkt Foyer unserer Zeitung in der L-Bank vor 500 Zuschauern einem Härtetest unterzogen. Besonders strittig war die Gewerbesteuer.

Stuttgart - Entschieden wird die Wahl, die je nach Ausgang als historisch in die Stadtgeschichte eingehen könnte, wohl noch nicht beim ersten, sondern erst im zweiten Urnengang am 21. Oktober. Immerhin so weit reicht die gemeinsame Einschätzung der sechs geladenen Kandidaten. Ansonsten aber gehen die Meinungen unter der Moderation von Chefredakteur Christoph Reisinger und Lokalredaktionschef Jörg Hamann am Freitag in der L-Bank auseinander.

Heißer Streitpunkt bleibt erwartungsgemäß das Bahnprojekt Stuttgart 21. Sebastian Turner, von der CDU nominiert und von FDP und Freien Wählern unterstützt, empfiehlt, keine Kraft mehr für eine Streitfrage zu verschwenden, die längst entschieden sei. Wichtig sei jetzt, in der Stadt Bildungsfragen auf Platz eins zu setzen. Turner will Stuttgart zur Bildungshauptstadt entwickeln. Nicht jeder könne seine Kinder „so fördern wie meine Mutter mich“. Die Bevölkerungsstruktur mit 40 Prozent Migranten ändere sich dramatisch.

Bildung spielt eine zentrale Rolle

Auch die von der SPD unterstützte parteilose Bettina Wilhelm identifiziert Bildung und Ausbildung als Zukunftsaufgaben. Mehr Plätze in Kindertagesstätten „sind das allerdringlichste Problem“, weiß die lange in Stuttgart beheimatete Bürgermeisterin aus Schwäbisch Hall. Im Gegensatz zu Turner propagiert die studierte Sozialpädagogin aber die Gemeinschaftsschule.

Bildung spielt auch im Programm von Jens Loewe, Harald Hermann (Piraten), Hannes Rockenbauch (SÖS) und Fritz Kuhn (Grüne) eine zentrale Rolle. Rockenbauch, Hermann und der vom Wasserforum unterstützte Loewe wollen aber auch die Verkehrswende radikal angehen. Sie versprechen kostenlose Tickets und wollen den Autoverkehr teilweise beschränken. Daimlers S-Klasse fahre vor allem in China, „wir brauchen hier keine neuen Straßen“, sagt Loewe. „Die Leute fahren nicht zum Spaß, sondern fahren zur Arbeit, und sie zahlen Steuern“, bremst Turner Loewe.

Kuhn will sich nicht damit abfinden, dass der Verkehr wächst und durch einen neuen Rosensteintunnel „von Esslingen her täglich zusätzlich 30 000 Autos durch die Stadt rollen“. Mit dieser Politik müsse „Schluss sein“, sagt Kuhn. Den Tunnel, der die Stadt 80 Millionen Euro koste, könne man sich sparen. Rockenbauch will das Geld am liebsten gleich in einen besseren Bus- und Bahnverkehr stecken.

Turner verteidigt den Tunnel

Turner verteidigt den Tunnel und weitere Straßenausbauten. Stuttgart brauche einen Umfahrungsring auf der Straße und auf der Schiene. Bettina Wilhelm winkt ab: „Die Nordostumfahrung ist beerdigt, und die Filderauffahrt vom Neckartal zur  A 8 kommt in nächster Zeit nicht.“

An der Frage, woher das Geld für die vielen Aufgaben kommen soll, schieden sich die Geister. Rockenbauch setzt sich als Mahner in Szene und will Antworten auf die Finanzierungsfrage. Er möchte die Unternehmen über einen höheren Gewerbesteuersatz heranziehen. Eine nachhaltige Haushaltspolitik sei mit einer eigenen Stadtsparkasse und Stadtwerken als Gewinnbringerin möglich.

Was erwarten die Bürger vom neuen Stadtoberhaupt?

Loewe lehnt die Erhöhung von Abgaben und Steuern ab. Die Stadt Stuttgart habe auch ohne diesen Hebel genügend Geld, es gehe nur um die Frage der Verwendung. „Wir haben das Glücksgefühl ungeheuren Wohlstands.“ Das sei aber kein Blankoscheck auf die Zukunft. Man müsse dafür sorgen, dass die Menschen gut leben könnten. Doch immer mehr könnten in Stuttgart die Miete nicht mehr zahlen.

Kuhn sieht in der Umwelttechnologie das „Trumpfass“

Fritz Kuhn, mit 57 der Älteste in der Kandidatenrunde, warnt entschieden vor der Gewerbesteuererhöhung: Unternehmen würden auf freie Flächen ins Umland abwandern. Der Aufbau einer Stadtsparkasse koste erst einmal viel Geld, hält er Rockenbauch entgegen. Mit dem Umbau der Landesbank Baden-Württemberg werde der Mittelstand an auswärtige Großbanken ausgeliefert. Rockenbauchs Vorschläge zur Finanzierung seiner Wünsche und Visionen seien nur „Luftbuchungen“. Kuhn sieht in der Umwelttechnologie das „Trumpfass“ für Stuttgart und die Region, um die Wirtschaft zu stabilisieren und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Erstaunlicherweise gebe es bis heute kein Umweltcluster von einschlägigen Firmen in Stuttgart. Die Stadt müsse beispielsweise zum Kompetenzzentrum für stromsparende Technologie werden.

Wilhelm fordert auch Innovation, Kreativität und Investitionen, um die Wirtschaft gegen Krisen zu wappnen. Harald Hermann hält die Verknüpfung der bestehenden Strukturen von der Industrie bis zur Biotechnologie für notwendig. Für Turner ist es entscheidend, dass die Stadt Freiräume für Kreative und junge Unternehmen bietet.

Hannes Rockenbauch, Aushängeschild der Stuttgart-21-Gegner, hat das Thema Widerstand nicht abgehakt. Verträge oder die Volksabstimmung seien kein Hindernis, den Tiefbahnhof noch zu kippen: „Wenn ich Oberbürgermeister bin, ist die direkte demokratische Legitimation da, Stuttgart 21 zu beenden“, sagt der 32-jährige gelernte Architekt provozierend. Die Fraktionen im Gemeinderat, die mit CDU, SPD, FDP und Freien Wählern eine klare Mehrheit für den Tiefbahnhof bilden, würden sich verändern, so Rockenbauch. Wenn er OB sei, werde sich bei der nächsten Kommunalwahl auch eine neue Mehrheit im Gemeinderat ergeben. Die Wahl steht 2014 an.

Stuttgart brauche eine neue Baukultur, so Kuhn

Was erwarten die Bürger vom neuen Stadtoberhaupt? Eine kleiner Filmbeitrag holt Menschen aus der Königstraße auf das Podium in der L-Bank. Sie ärgern sich über zu viele Baustellen, Schlaglöcher, mangelnde Sauberkeit und Sicherheit und viel zu teure Wohnungen. Sie sorgen sich um die Kinderbetreuung und wollen den Streit um Stuttgart 21 beendet sehen. Der amtierende OB Wolfgang Schuster von der CDU wird kritisiert. Der neue Stadtchef solle nicht „wie Schuster alles platt machen“, sagt eine Bürgerin.

Kuhn hakt ein, sieht sich bestätigt. Stuttgart brauche eine neue Baukultur und „Wohnungen, Wohnungen, Wohnungen, auch im Kessel“. Sein Urteil über das neue Einkaufszentrum Milaneo hinter dem Bahnhof ist vernichtend. Solche Projekte würden die Stadt zerstören. Turner befindet, die Wünsche lägen auf hohem Niveau. Kein Bürger ängstige sich hier wie in Südeuropa vor dem Verlust seines Arbeitsplatzes. Nach dem Bahnhofsstreit will Turner eine „neues Zuhören und Zusammenleben“ schaffen.

Wer kennt sich in Stuttgart am besten aus, wer geht mit den besten Chancen in den Schlussspurt zum 9. Oktober? Christoph Reisinger und Jörg Hamann fühlen den Kandidaten mit einem Quiz auf den Zahn. Historische, kulturelle und ortsbezogene Fragen meistern die Probanden locker, bei einem Prominenten müssen sie aber passen. Wo Gunter Sachs eine Ausbildung absolvierte? Bei Bosch. Nach der Endabrechnung liegt Turner vorn – und erringt das Siegertrikot. Wer der Gewinner des Abends ist, bleibt aber offen.