Nur für Schwindelfreie: Vom CN Tower, Fernsehturm und Wahrzeichen der Stadt Toronto, kann man angeseilt auf einer geländerlosen Plattform in die Tiefe schauen. Foto: CN-Tower

Toronto recycelt sich gerade selbst: Mit glitzernden Neubauten, pfiffigen Geschäftsideen und atemberaubenden Attraktionen - halb Baustelle, halb Schaufenster. Ein Besuch in Kanadas größter Stadt.

Toronto - Das ist die Höhe: 356 Meter über dem Erdboden, mitten in der vom Ontariosee rüberwehenden, steifen Brise stehen sie, mit Pudding in den Knien auf der gerade mal gut einen Meter breiten, geländerlosen Außenplattform des CN Towers. Jason, Matt, Mike und die anderen sollen vorwärts ganz an die Kante dieses Gitterrostes herantreten und in die Tiefe schauen. „Toes over Toronto“ - Zehen über der Stadt - heißt diese Mutprobe.

Der Blick zwischen den Füßen hindurch zieht jeden von ihnen Richtung Abgrund. Runter stürzen sie nur deshalb nicht, weil sie in ihren roten Ganzkörper-Anzügen am Sicherheitsseil hängen, eingeklinkt in eine Art XXL-Gardinenschiene am Dach des CN Towers. Sie ermöglicht den „Edge Walk“, einen Spaziergang um die Plattform herum - seit gut einem Jahr die neue Nervenkitzel-Attraktion in Toronto. Und zugleich die PR-Wiedergeburt des 553 Meter hohen, 37 Jahre alten Turmes: Bis 2007 höchstes frei stehendes Gebäude der Welt, 2009 ging dann auch der Titel höchster Fernsehturm flöten. Spätestens da gab’s dringenden Superlativ-Bedarf, um weiterhin etwa zwei Millionen Besucher jährlich im CN Tower begrüßen zu können.

Die meisten von ihnen geben sich allerdings nicht die Kante, sondern schauen den Edgewalkern über Monitore bloß zu und genießen hinter Panoramafenstern den Blick auf den blau glitzernden Ontariosee, auf ameisenartig hin und her wuselnde Autos sowie die wie silbrige Bauklötze aufragenden Wolkenkratzer. Rund um den CN Tower wachsen viele weitere. Aber auch mitten in der alten City rattern Presslufthämmer. Die aus den Sechzigern stammende Betonwüste vor dem neuen Rathaus namens Nathan Philips Square wird ebenso umgestaltet wie der klotzige Bahnhof aus den dreißiger Jahren.

Antriebsfeder für derart emsige Bautätigkeit: Toronto ist Schauplatz der Pan-Am-Games 2015, einer Art Olympia für Nord- und Südamerika. Dafür wird auch die Sonnenseite der Stadt herausgeputzt: An Torontos Ontariosee-Ufer entstehen Grünflächen, neue Apartment-Anlagen und eine Promenade für Skater, Radler und Bummler. Am Queens Quay East ist der Wandel am augenfälligsten: Die alte verrostete Zuckerfabrik, gleich daneben der „Sugar Beach“: Hier aalen sich Menschen am künstlichen Strand unter rosa Sonnenschirmen. Vielerorts allerdings scheint es, als sollten solche Umgestaltungen und die aufstrebenden Neubauten vor allem eines - den Blick verstellen auf die wenige Schritte vom See-Ufer landeinwärts thronende, kariöse sechsspurige Stadtautobahn. Ebenso verschämt versteckt wurde jahrelang der Distillery District im Osten Torontos. Das weitläufige Gelände der Schnapsbrennerei von 1837 war schmuddelig und verfallen, nur noch gut genug als Drehort für Gangsterfilme.

Nun erstrahlen die Produktions- und Lagerhallen wieder in ihrem satt warmen Klinker-Rot und beherbergen Galerien, Cafés und kleine Stöber-Läden. Blackbird Vintage etwa ist eine Fundgrube: Opas Schreibmaschine, Seifen und Düfte von früher im nachgebauten Lilians Beautyshop. Bei Soma gibt es erlesene Schokoladenspezialitäten, raffiniert gemixt mit Chili-Pfeffer, Orangenschale und Vanille oder Trüffel, veredelt mit Olivenöl. Pfiffige Filztaschen von Ladymosquito oder coole Ringe und Ketten von Filip Vanas findet man bei Corktown Design. Menschen auf der Suche nach Mode, Elektronik oder Mitbringseln sind downtown (innerorts) richtig - und zwar im Wortsinne: Unter der City hat Toronto 28 Kilometer Fußgängerzone namens „Path“ (Pfad) mit 1200 Geschäften - Weltrekord mit Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde! Damit der nicht früher oder später ebenso futsch ist wie der Titel des höchsten Fernsehturms, soll „Path“ schnell noch weitere Kilometer dazubekommen.

 Einen Südseestrand hat die Metropole auch

Doch es gibt auch Ecken, in denen nicht gebaut wird - an der Roncesvalles Avenue etwa. Die Anwohner sind froh, dass sie bisher von der in Nachbarstadtteilen begonnenen Luxussanierung verschont bleiben. Zu Recht, denn diese Schlender-Straße hat ihren eigentümlichen Charakter bewahrt: links viktorianische „My home is my castle“-Seligkeit mit Veranden, Fachwerk und Säulenportalen, rechts kilometerlang Cafés, Kneipen und Kramläden. Mari Cla Ro ist ein ganz besonderer. Auf den ersten Blick jedoch nicht. Taschen, Portemonnaies und Rucksäcke in Kieferregalen - na und? „Die sind nicht nur handgenäht, sondern bestehen komplett aus Sitzbezügen und Gurten verschrotteter Autos“, erklärt Inhaber Sven Schlegel.

 Der 35-Jährige stammt aus Zwickau, er hat bei seinem Geografiestudium über Recyclingprojekte geforscht und dann selbst dieses hier erfunden - ebenso einfach wie genial: Mit Teppichmessern zieht er durch 20 Schrottplätze der Umgebung und schlitzt aus Chevys, Fords oder Buicks heraus, was sich verarbeiten lässt. Preis pro Tasche 25 bis 250 Euro: Abwrackprämie auf kanadisch.

Zurück in die City geht’s per Rakete: Red Rocket heißt die rumpelige, aber klimatisierte rote Straßenbahn. Linie 506 quietscht und kurvt an der College Street um die halbe Welt: vom Polenviertel durch Chinatown und Little Italy. Jetzt noch schnell das Skyline- Erinnerungsfoto schießen. Den besten Weitwinkel-Blick bieten die vorgelagerten Inseln Wards Island und Centre Island. Zehn Minuten mit der Fähre, schon ist man da. Aber nicht annähernd so schnell zurück, denn hier warten Torontos nächste Überraschungen: Ach, einen Südseestrand hat die 2,5-Millionen-Metropole auch? Und kilometerlange Radwege durch den Wald!

So wird das Wetter für die Weltreise 

Infos zu Toronto

Anreise
Air Canada ( www.aircanada.com) und Lufthansa (www.lufthansa.com) fliegen ab Frankfurt direkt nach Toronto-Pearson, Lufthansa auch ab München.

Unterkunft
Fairmont Royal York, außen klotzig, innen plüschig, das Grandhotel von 1929 ist oft New-York-Filmdouble und Stammhaus der Queen. Auch ohne Buchung unbedingt in die Marmor-Lobbyhalle - zum Leute-Gucken. Tipp: Gemüsegarten und Bienenstöcke auf dem Dach zeigen lassen. (100, Front Street West, www.fairmont.com/royal-york-toronto/ , Doppelzimmer mit Frühstück ab ca. 147 Euro). Das Delta Chelsea bietet kurze Wege zu vielen Attraktionen und gutes Frühstück (33 Gerrard Street West, www.deltahotels.com , DZ/F ab ca. 144 Euro). Das Clarion Hotel & Suites Selby wurde erbaut als Villa für Distillery-Gründer Gooderham, hat knarzende Dielen und bunte Bleikristallfenster, aber sehr moderne Zimmer. Sparfrühstück auf Papptellern (592 Sherbourne Street, www.clarionhotelselby.com , DZ/F ab ca. 97 Euro).

Essen und Trinken
Das Acadia in Little Italy überrascht mit Kreationen wie Wildlachs an Johannisbeeren und Spargel. (50c Clinton Street, www.acadiarestaurant.com ). Der Pub The Queen and Beaver hat eine luftige Dachterrasse, es gibt leckere Snacks oder Ontario-Lamm für den größeren Appetit (35 Elm Street).

Attraktionen
Edge Walk auf der Außenplattform des CN Towers. (301 Front Street West, www.edgewalkcntower.ca , 144 Euro). Nur gucken, nicht anfassen gilt im Bata Shoe Museum bei Fuß-Verhüllern von Ötzis Fell-Fetzen bis zu Manolo-Blahnik-High Heels, Björn Borgs Tennistretern oder Dalai Lamas Flip-Flops (327 Bloor Street West, www.batashoemuseum.ca , 11,50 Euro).

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