Ein Altvogel will mit einem erbeuteten Mauersegler zwei voll befiederte Jungvögel aus dem Horst im Kirchturm locken – nach dem Motto: „Es ist Zeit, flügge zu werden.“ Foto: Rietschel

In Mannheim kümmern sich seit 2013 regelmäßig drei Wanderfalken um die gemeinsame Brut.

Stuttgart - Selbst eingefleischte Vogelkundler reiben sich bei diesem Verhalten verblüfft die Augen: Der männliche Falke, der Terzel, kuschelt sich eng an das brütende Weibchen und deckt dabei auch die frei liegenden Eier zu. Dies ist schon ungewöhnlich genug, aber es kommt noch besser. Das Gelege stammt nicht nur von ei-nem, sondern von zwei Weibchen, die es – zusammen mit dem Terzel – gemeinsam bebrüten und danach auch die ausgeschlüpften Jungen betreuen.

Seit 2013 gibt es nun schon diese ungewöhnliche Wohn- und Beziehungsgemeinschaft zwischen drei Wanderfalken auf dem Kirchturm der evangelischen Konkordienkirche im Zentrum von Mannheim. Auch in diesem Jahr haben die Vögel gemeinsam ein Junges großgezogen. Und das unter erschwerten Bedingungen, wie der Biologe Gerhard Rietschel berichtet, der als Naturschutzbeauftragter der Stadt Mannheim die dortigen Falken seit 1988 sozusagen unter seinen Fittichen hat. Um die Kirche für das Lutherjahr 2017 herauszuputzen, war der Turm in diesem Jahr mit einem Gerüst versehen und zudem noch mit einem Netz verhüllt worden. Doch es gab einen Ausweg: „Als Ersatz für den ursprünglichen Horst habe ich einen Behelfsbrutplatz ganz oben im Turm angelegt, sodass die Vögel nicht auf das Gerüst blicken konnten – und sie haben sich auch tatsächlich kaum von den Bauarbeiten stören lassen“, erzählt Gerhard Rietschel.

Die Ménage à trois begann 2013

Begonnen hat die Ménage à trois Ende Februar 2013. Damals wurden in der Nähe der Kirche zwei Weibchen beobachtet, die sich heftige Luftkämpfe lieferten und sogar ineinander verkrallt zu Boden gingen. Richtig ungewöhnlich ist das nicht. Es kommt immer wieder vor, dass zwei Falkenweibchen um die Gunst eines Terzels buhlen – und dabei vor allem dessen Nistplatz im Visier haben, wenn es sich bei diesem um ein komfortables und sicheres Heim handelt. Diese Kämpfe verlaufen manchmal so heftig, dass die Angreiferin oder die Verteidigerin – oder vielleicht auch beide – sie nicht überleben.

Die Buhlerei um den Mannheimer „Kirchenterzel“ nahm allerdings ein ungewöhnlich versöhnliches Ende. Da keine der Falkendamen nachgab und sich der Terzel nicht entscheiden konnte, gründeten sie eine Dreier-WG. Wenig später legten beide Weibchen gleichzeitig ihre Eier in die Nistmulde. „Aus den insgesamt sechs Eiern schlüpften vier Junge, was angesichts des damals kalten Frühjahrs und des großen Geleges eine echte Überraschung war“, berichtet Rietschel.

Friede und Einigkeit in der neuen Gemeinschaft

In den kommenden Wochen herrschte Friede und Einigkeit in der neuen Gemeinschaft. „Zunächst huderten beide Weibchen eng aneinander gekuschelt den Nachwuchs und legten sich sogar gelegentlich aufeinander“, beschreibt Rietschel die ungewöhnliche Situation. Das Männchen, das zuvor noch beim Brüten geholfen hatte, ging nun auf Jagd, an der sich später auch die Weibchen beteiligten. Allerdings blieb immer ein Altvogel bei den Kleinen – ein Luxus, den sich ein normales Elternpaar nicht leisten kann, wenn die stets hungrigen Schnäbel gestopft werden müssen. Am Ende verließen im Juni 2013 zwei Jungfalken den Horst.

Gerhard Rietschel hat in den vergangenen Jahren intensiv die Fachliteratur nach ähnlichen Beziehungen durchforstet. Demnach wird bei verschiedenen Greifvogelarten, etwa bei Wiesenweihen und Kornweihen, aber auch bei Eulen immer wieder ein solches Verhalten beobachtet. Allerdings hatte in diesen Fällen stets jedes Weibchen seinen eigenen Horst. Auch kommt es gelegentlich vor, dass ein Wanderfalkenmännchen zwei Weibchen betreut, auch hier immer in zwei unterschiedlichen Horsten. „Doch ein solches Bigynie-Verhältnis bei Wanderfalken, bei dem der Terzel zusammen mit beiden Weibchen in ei-nem gemeinsamen Horst die gemeinsamen Jungen in Ar-beitsteilung aufzieht, und das auch noch ohne jegliche Aggression der Weibchen untereinander – das ist offenbar noch nie beobachtet worden“, lautet das Fazit des Mannheimer Naturschutzbeauftragten.

Wechselvolle Vorgeschichte der Partner

Ein bisschen besser kann man dieses Dreiecksverhältnis verstehen, wenn man der so spannenden wie wechselvollen Vorgeschichte dieser drei Vögel nachgeht. Demnach ist der Terzel seit 2006 Chef des Nistplatzes auf dem Turm der Konkordienkirche, wo er 2004 geschlüpft ist. Im März 2005 hatte er sich am Nistplatz mehrfach sehen lassen, wo ihn seine brütenden Eltern auch duldeten. Dann aber verschwand er, um im Frühjahr 2006 erneut aufzutauchen und seinen mittlerweile tödlich verunglückten Vater zu ersetzen: „Mit seiner eigenen Mutter zog er in den kommenden Jahren insgesamt 15 Junge auf, bis sie Ende 2010 verschwand und nicht mehr auftauchte“, erinnert sich Rietschel.

Dann, man schreibt das Frühjahr 2011, trat eine neue Falkendame ins Leben des Konkordienkirchen-Terzels: Als „Bruchpilot“, wie es Rietschel formuliert, war sie 2008 in Waiblingen aufgegriffen worden. Nach Zwischenstationen, unter anderem in der Stuttgarter Wilhelma, wurde sie in Karlsruhe in den dortigen Wanderfalkenhorst erfolgreich integriert. 2011 zog W08 – so wird das Bruchpiloten-Weibchen wissenschaftlich nüchtern von den Falkenbetreuern genannt – dann zusammen mit dem Mannheimer Terzel drei Junge groß, von denen aber letztlich nur ein Falkenmädchen überlebte. Zu dieser Jungschar hatten die Vogelschützer allerdings ein weiteres Falkenjunges hinzugesellt, das als gerade flügge gewordener Jungfalke hilflos in einem Mannheimer Industriegebiet aufgegriffen worden war. Dieses Findelkind wurde erfolgreich während der sogenannten Bettelflugperiode in den Familienverband integriert – als Adoptivkind, wenn man so will.

Kuscheln mit der Adoptivtochter

Im folgenden Jahr 2012 tauchte dann das Weibchen W08 nicht mehr am Horst der Konkordienkirche auf. Dafür gewann ein noch sehr junges Falkenfräulein schnell die Gunst des Terzels. Bald stellte sich heraus, dass es sich um die Adoptivtochter handelte, die den Namen W11 erhielt. Nachwuchs hatten die beiden in diesem Jahr aber noch keinen. Das hätte dann vermutlich im Frühjahr 2013 geklappt, aber da funkte dann bekanntlich die Vorjahres-Geliebte W08 dazwischen, mit dem unerwartet glücklichen Ausgang, dass sich Adoptiveltern und Adoptivtochter seither bestens vertragen.

Für seine Adoptivtochter W11 scheint der Konkordien-Terzel in all den Jahren der Dreiecksbeziehung aber doch etwas mehr Gefühle zu hegen – oder er traut sich einfach mehr: Wenn diese brütet, kuschelt er sich oft eng an sie. „Manchmal versucht er sogar, sie von den Eiern zu drängen, um selber zu brüten“, berichtet Rietschel. Das ältere Weibchen W08 brütet dagegen immer alleine. Die beiden Damen verstehen sich nach wie vor prima: „Trotz des bettelnden Nachwuchses füttern sich die beiden immer mal wieder gegenseitig, bis sie dann beide wieder die Jungvögel mit Nahrung versorgen“, erzählt Rietschel. Er hofft, dass sich die ungewöhnliche Dreiergemeinschaft trotz des fortgeschrittenen Alters des Terzels noch einige Zeit hält.

Falkenprojekt und Kalender

Wanderfalken
Bundesweit stand der Wanderfalke Anfang der 1970er Jahre vor dem Aussterben. Das damals verbreitete Insektengift DDT ließ die Schalen der Eier so dünn werden, dass kaum noch Jungtiere schlüpften. Dank des DDT-Verbots und vieler weiterer Maßnahmen gilt die Art heute als nicht mehr gefährdet.

Schulprojekt
1993 wurde eine Nisthilfe für Wanderfalken auf dem Turm der Mannheimer Konkordienkirche angebracht. Sie wird seit 1994 ununterbrochen genutzt. Seit 2010 überträgt eine fest installierte Kamera das Brutgeschehen in die benachbarte Mozartschule. Dort können die Schüler live alles beobachten, was im Horst passiert.

Kalender
Der Mannheimer Naturschutzbeauftragte Gerhard Rietschel hat das Zusammenleben der drei Wanderfalken im Horst fotogra-fisch dokumentiert. Die Bilder wurden zu einem Kalender für 2017 zusammengefasst: „Die Wanderfalken der Mozartschule Mannheim – die Brut durch das Guckloch erlebt“. Er ist im Verlag Waldkirch Mannheim erschienen und kostet 19,80 Euro. Ein Teil des Erlöses kommt der Mozartschule zugute.