Schulleiter Martin Hermann auf der Empore der 20 Meter hohen Thinghalle Foto: Leif Piechowski

Auf Spurensuche: In unserer Serie „Stuttgarter Entdeckungen“ wollen wir Geschichten aufspüren, die in den vielen Winkeln der Stadt verborgen sind. Diesmal geht es um die 1939 von den Nazis auf der Rohrer Höhe erbaute Thinghalle.

Stuttgart - Die Rohrer Höhe bietet durchaus prächtige Perspektiven ins Tal. Vor allem aber ist sie auch aus weiterer Entfernung sichtbar. Kein Wunder, dass die Nationalsozialisten das Gelände einst für eine sogenannte Thingstätte auserkoren, um dort Leibesertüchtigungen, Paraden oder politische Kundgebungen stattfinden zu lassen. Zentrales Gebäude des geplanten Kultur- und Gemeinschaftszentrums sollte jene vor 75 Jahren errichtete Thinghalle sein, die wie eine Trutzburg auf dem Hügel thront.

Martin Hermann blickt von der Empore aus auf eben jene imposante Halle. Er ist Schulleiter der Albert-Schweitzer-Schule, die wiederum Nachfolger der Schule der Paulinenpflege ist, die das Gebäude 1949 bezog. In der Hand hat Hermann eine Kopie des Bebauungsplans vom April 1938. Seinerzeit hatten die Architekten Erwin Rohrberg und Eberhard Holstein ein Ensemble mit fünf Gebäuden geplant – „doch der zweite Weltkrieg kam dazwischen, so dass es eben nur bei der Thinghalle blieb“. Hermann zückt die Chronik der Stuttgarter Stadtbezirke. Dort wird berichtet etwa vom Jungvolk, den „Pimpfen“, den Jungmädeln und dem Rohrer Fähnlein „Wolgot“. „Ganze Kerle und keine Muttersöhnchen“ sollten herangezogen werden, Unsportliche hatten nichts zu lachen. Auf den Bauplänen sind neben der riesigen Halle auch Räume als sogenannte „Führungszimmer“ der Jungschar aufgeführt, in denen nur wenig ältere HJ-Führer die Kinder über die Partei, Adolf Hitler und andere NS-Größen unterrichteten.

Als HJ-Heim diente die Thinghalle allerdings nur wenige Monate. Kurz nach Kriegsbeginn zogen Versorgungseinheiten der Nazis ein. Von 1945 bis 1948 belegten die Besatzungstruppen das Gebäude. Später folgte das Rote Kreuz. Und anschließend zog die Paulinenpflege mit einem heilpädagogischen Zentrum ein. „In dem Kinderheim schliefen acht bis zwölf Kinder pro Zimmer in Stockbetten“ berichtet Hermann. Immer wieder kommen auch heute noch ehemalige Heimkinder vorbei.. „Manche haben es als Heimat wahrgenommen und loben den früheren Leiter mit seiner väterlichen Ausstrahlung.“ Andere hätten indes unter dem strengen Regiment sehr gelitten und finden auch die Erinnerung sehr belastend. „Alles Leben spielte sich in der Halle ab, im Winter war es sehr kalt, nur ein Ofen stand für die Heizung der ganzen Halle zur Verfügung.“

Manche auch aus pädagogischer Sicht sinnvolle Veränderung am Gebäude ist bis heute nicht möglich, denn es steht als typisches NS-Bauwerk unter Denkmalschutz „und muss von außen und von innen in seinem Charakter erhalten bleiben“. Mindestens 20 Meter hoch ist die Halle, schätzt Hermann. „Das ist für unsere Schüler zumindest anfangs schon beängstigend“, sagt er. Doch die Decke abhängen, das geht eben wegen des Denkmalschutzes nicht.

Immerhin genehmigte die Behörde aber, dass verschiedenfarbige Stoffbahnen an die Decken gehängt wurden und so der Halle etwas von ihrer gewaltigen Höhe nehmen. Ebenfalls seit sieben Jahrzehnten hängen Leuchter von der Decke. „Das sind altgermanische Sonnenräder, sehr ehrerbietend, immer noch im Original, auch die dürfen nicht weg.“ Statt wie früher Kerzen erhellen mittlerweile Glühbirnen die Halle. Zum Austausch „benötigen wir eine extrem lange Leiter mit acht bis zehn Metern Länge, das muss natürlich besonders gesichert werden.“ Hermann erinnert sich auch noch daran, wie er selbst die Stoffbahnen an der Decke befestigte – „wir waren natürlich angeseilt, aber wenn man sich da oben fast 20 Meter über dem Boden befindet, lässt sich natürlich trotzdem ein leicht mulmiges Gefühl nicht vermeiden.“

Dennoch hat sich die Albert-Schweitzer-Schule mit der manchmal beklemmend bombastischen NS-Architektur wie den baulichen Gegebenheiten arrangiert. „Die Halle ist für Feste oder Weihnachtsfeiern gut geeignet, oder auch für die Aufführungen unserer tollen Theatergruppe.“ Träger der Schule ist die Stiftung Jugendhilfe aktiv. In dem Stammgebäude in Rohr werden Schüler aus dem gesamten Stuttgarter Stadtgebiet und dem Landkreis Böblingen in den Klassenstufen 1 bis 7 unterrichtet . Es ist also eine sonderpädagogische Privatschule, für die sich die Eltern bewusst entscheiden, „weil sie eben diese besondere Form der Förderung schätzen“. Es gibt sieben Klassenzimmer, die sich im Erdgeschoss in den Seitentrakten der Thinghalle befinden. Knapp 85 Schüler werden von acht Kollegen unterrichtet.

Wenn die Eltern und Schüler auf erstmals auf das Gelände kommen, gibt es in der Regel zwei Reaktionen, erläutert der 43-jährige Sonderschullehrer, der 1988 auf die Rohrer Höhe kam und seit zehn Jahren Schulleiter ist: „Entweder sagen sie, es erschlägt mich. Oder sie fühlen sich wie in die Harry-Potter-Schule versetzt – und ein bisschen was von Hogwarts hat es ja durchaus.“

Wer die Thinghalle der Albert-Schweitzer-Schule besichtigen möchte, kann über das Rektorat einen Termin vereinbaren, Telefon: 07 11 /  74 59 17 50 .