Vieles klingt nach Abschied. Teodor Currentzisist noch bis Saisonende Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters. Foto: SWR

Beim SWR-Symphonieorchester dirigiert Teodor Currentzis ein spannendes Programm mit dem Fragment von Mahlers zehnter Sinfonie und vier zeitgenössischen Stücken. Das Publikum hält den Atem an.

Das ist keine Musik mehr, in der etwas entsteht. Sondern eine, die sich auflöst. „Erbarmen: O Gott, warum hast du mich verlassen?“ hat Gustav Mahler unter und neben die Noten seiner zehnten Sinfonie geschrieben. Das Stück blieb unvollendet; selbst der am weitesten ausgearbeitete und heute meist allein aufgeführte erste Satz ist nicht ganz fertig geworden. In diesem Adagio klingt alles nach Abschied, und genau so hat der Mann, der sich am Ende dieser Saison als Chefdirigent vom SWR-Symphonieorchester verabschiedet, das Stück jetzt auch dirigiert.

Komplexe Verflechtungen und ein mächtiger Choral

Da ist eine diffuse Melodielinie der Bratschen, die weder einen harmonischen Anker hat noch Rhythmus, stabiles Metrum oder Richtung; da ist das große Adagio-Thema in den Violinen, das sich wieder und wieder aufschwingt; da verflechten sich beide Stränge auf komplexe Weise; aus dem Pianissimo entsteht ein mächtiger Choral – und dann, ganz plötzlich, erschüttert ein lauter, dissonanter Neun-Ton-Akkord den Saal. Unerhört, schrecklich! Currentzis bringt den Satz nicht „auf Linie“, wie es etwa Leonard Bernstein mit starker Wirkung tat, sondern lässt das Unverbundene unverbunden. Es kommt dem Stück so näher und ist doch auch der Tatsache geschuldet, dass bei der ersten Aufführung des Programms am Donnerstagabend im Beethovensaal der Liederhalle im Orchester noch nicht jeder Stimmeinsatz auf den Punkt kommt und noch nicht jede Phrase optimal koordiniert ist.

Dies wiederum mag auch am anspruchsvollen Rest des Programms gelegen haben, der viel Probenzeit verschlungen haben dürfte. Zu erleben ist die Ur- und Erstaufführung von vier zeitgenössischen Auftragswerken des SWR: Vier Komponisten (warum ist eigentlich keine Frau darunter?) sollten das Adagio aus Mahlers Zehnter weiterdenken. Currentzis dirigiert diese Stücke fast pausenlos, als wüchsen sie ähnlich aus Mahlers Satz und auseinander hervor wie der Anfang des Adagios aus dem dreifachen Pianissimo-Schluss von Mahlers Neunter.

Dabei gehen die neuen Stücke auf sehr unterschiedliche Weise mit Mahlers Klangmaterial um.

Rhythmisch Zergliedertes, Momente eines Trauermarschs, Klangwogen

Als Erster in der Reihe führt Alexej Retinsky, ein mit Currentzis und seinem MusiAeterna-Ensemble eng befreundeter russischer Komponist, zu Beginn von „La Commedia“ das Verstummen des hohen Tons am Ende des Mahler-Satzes fort.

Danach beleuchtet und erweitert er Teilspektren von Mahlers Katastrophen-Akkord. Teilweise klingt das Orchester bei ihm wie eine Orgel. Man hört rhythmisch Zergliedertes, Momente eines Trauermarschs, Klangwogen – all das Große, Mächtige, das Mahler jenseits seines zentralen Akkordes im Adagio der Zehnten verweigert.

Das Ende ist wieder ein einsamer Ton: hoch, lang und leise. Er führt hinüber zu Philippe Manourys „Rémanences – Palimpseste“. Im Quartett des Neuen zeigt dieses Stück die stärkste Nähe zu Mahlers Musik, vor allem zu den Melodiebögen, zum typischen „Mahler-Ton“ mit seinen Kontrasten und weiten Intervallsprüngen. Wieder einmal bewundert man nicht nur die Dichte und die Ideenfülle, sondern auch die hohe handwerkliche Qualität von Manourys Musik. In ihr gibt es kein Nicht-Klingendes.

Und wie bei Mahler entgleitet die Zeit. Das verbindet Manourys Stück mit dem folgenden, das ansonsten unterschiedlicher kaum klingen könnte. In „Echographie 4“ belebt Mark Andre vor allem die Stille, die Räume zwischen den Klängen und lädt sie mit Bedeutung auf. Singende Säge, zitterndes Donnerblech und flatternde Notenblätter gehören mit zum Arsenal des Tönenden; ein Atem durchweht den Saal. Andre geht es zuallererst um das Unfassbare in Mahlers Musik, um das Verschwinden, das der todkranke (und von der Beziehung seiner Frau zum Architekten Walter Gropius zu Tode gekränkte) Mahler in seiner Partitur mit dem Satz „Leb wohl, mein Saitenspiel!“ beschrieben hat. Ein leises, sehr intimes Stück, das vor allem aus Nachklängen zu bestehen scheint – ohne dass man wüsste, wo die Klänge selbst geblieben sind.

Zum Abschluss ein Klassiker mit dem Orchester in Nahaufnahme

Am Ende knetet der US-Amerikaner Jay Schwartz das Orchester durch. „Theta“ kann man als Studie über Glissandi hören, über gewaltige, langsame Gleitbewegungen des Kollektivs nach oben und nach unten. Das ist sehr (be-)greifbar, sehr bildlich, sehr effektvoll, fast wie eine Klangtapete. Außerdem tragen Glissandi, wenn sie einen Ton aufwärts oder abwärts verlassen, immer die dissonante Reibung in sich, den Kern von Mahlers Riesencluster. Dazwischen gibt es Momente der Andacht, einschließlich einer aus dem Nebenraum in den Saal tönenden Solohorn-Passage. „Theta“ zelebriert einen Abschied mit Sahnehäubchen. Der volle Beethovensaal applaudiert lange, und als Dessert bekommt das Publikum in guter Currentzis-Tradition noch ein Stück Orchester in Nahaufnahme: Vier Musiker spielen vier Sätze aus Alban Bergs „Lyrischer Suite“, und die Zuhörenden halten den Atem an.

Weitere Aufführungen

Konzerte
Im nächsten Stuttgarter Abo-Konzert dirigiert am 18. und 19. Januar der ehemalige Generalmusikdirektor der Staatsoper, Manfred Honeck, Bruckners siebente Sinfonie. Im Februar-Konzert (22. und 23.2.) stellt sich unter der Leitung von Andres Orozco-Estrada die Residenzkünstlerin der Saison, Isabelle Faust, mit Brahms‘ Violinkonzert vor. Zudem steht Richard Strauss‘ „Alpensinfonie“ auf dem Programm.

Abschied
Teodor Currentzis‘ letztes Konzert als Chefdirigent des Orchesters ist am 6. und 7. Juni. Dann steht Brittens „War Requiem“ auf dem Programm. Karten unter swr.de/so und unter 072 21/ 30 01 00.