Szene aus „Made in Bangladesh“ Foto: Wonge Bergmann

Normalerweise sind sie nur ein winziges Stück Stoff, eingenäht in Kleider, die schick und möglichst günstig sein sollen. „Made in Bangladesh“ steht darauf. Nun jedoch stehen die Näher vor uns. Es ist nur Kunst – trotzdem zielt Helena Waldmanns neues Tanzstück in Ludwigshafen mitten ins Leben.

Ludwigshafen - Dhaka, die Hauptstadt von Bangladesch, ist weit weg. Für die 7500 Kilometer braucht man von Deutschland aus, weil es keinen Direktflug gibt, eine gefühlte Ewigkeit. Doch Bilder reisen heute schneller um die Welt. Und so war Dhaka plötzlich ganz nah, damals im November vor zwei Jahren und im April 2013. Erst brannte eine der 5600 Textilfabriken, in denen fast vier Millionen Arbeiter in Bangladesch meist unter unwürdigen Bedingungen den Westen einkleiden; 112 Menschen starben, weil sie ein Aufseher aus Angst vor Diebstählen eingeschlossen hatte. Dann stürzte das Rana-Plaza-Gebäude ein, als nach einem Stromausfall die Generatoren ansprangen. Zu viel Sand war im Beton, der den Schwingungen nicht standhielt und 1134 Menschen in den Tod riss.

Doch Bilder sind nur Bilder und als Teil einer Flut schnell wieder weggespült. Das weiß auch Helena Waldmann. Und beginnt ihr neues Tanzstück, das am Mittwoch von Ludwigshafen aus zur Reise durch Europa aufbrach, eben damit, die kurze Verfallszeit von Bildern und ihrer Wirkung zu durchbrechen. Sie zeigt uns Aufnahmen aus Überwachungskameras, die in groben Pixeln in die niedrigen Stockwerke einer Textilfabrik schaut und Näherinnen bei der Arbeit unter surrenden Ventilatoren zeigt. Die neue Schicht tritt im Gänsemarsch an, erst von der Überwachungskamera erfasst, dann in bestechend schönen Farben gefilmt Zuletzt marschieren die zwölf tatsächlich auf der Bühne des Theaters im Pfalzbau ein.

Dort stehen sie uns aufgereiht wie eine Front gegenüber. 12 Kathak-Tänzer, die vor allem ihre Füße in vielfach gebrochenen Rhythmen sprechen lassen. Mit starrem Oberkörper tanzen sie, ihre Füße trommeln barfuß ihre Botschaft in den Boden. Dahinter auf der Filmleinwand tanzt die Nadel einer Nähmaschine ihr Auf und Ab. Noch eine und noch eine kommt hinzu; in Großaufnahme wirken sie wie Waffen oder wie die Folterinstrumente einer hoch technisierten Zeit.

„Made in Bangladesh“ heißt das neue Tanzstück von Helena Waldmann, dessen Struktur und Symbolik auf den ersten Blick fast zu einfach gewirkt erscheinen. Der Kathak-Tanz, wie Flamenco, Stepp oder der irische Show-Tanz auf flinke Fußarbeit konzentriert, wird zur Antwort auf das Rattern der Nähmaschinen. Die Füße der Tänzer stechen, wenn auch komplexer im Rhythmus, schnell wie Nähnadeln; Pirouetten greifen das Drehen der Fadenspulen auf.

Die erschöpfende Monotonie eines zehnstündigen Arbeitstags, der tausendfach gleiche Bewegungen fordert und Nähteams im Akkord gegeneinander hetzt, setzt die Choreografie derart um, dass Erschöpfung spürbar wird. Aber „Made in Bangladesh“ ist keine düstere Anklage, sondern ein Stück, das Hoffnungen transportieren will. Ein Stück, dessen farbenfroh gekleidete Akteure uns voller Sympathie begegnen - auch wenn man auf das Lächeln eines Tänzers, wie man an diesem Abend noch lernen wird, nichts geben darf.

Während das „Tike-Take“-Staccato des Kathak und die projizierten Soll-Zahlen einer Nähschicht die Akteure auf der Bühne antreiben, darf man im Parkett ins Grübeln kommen. Denn Helena Waldmann spart Widersprüchliches nicht aus. In „Letters from Tentland“ zeigte sie uns am Beispiel des Themas Verschleierung, dass unsere Vorstellungen nicht immer mit der Wirklichkeit übereinstimmen. So wie in Dhaka, als sie hinter die Kulissen der Ausbeutung blickte, um deren Mechanismen aufzuzeigen.

Ja, die Textilarbeiter, die im echten Leben und auch auf der Bühne zu 80 Prozent weiblich sind, arbeiten zu viel und unter zu schlechten Konditionen. Doch für viele Frauen ist es der erste Schritt heraus aus einem von Armut und Zwangsheirat diktierten Leben auf dem Land. Die meisten der Textilarbeiterinnen sind froh, dem Diktat von Schwiegereltern und Mann entgangen zu sein - selbst für 28 Cent in der Stunde.

Und welches Urteil maßt sich eine Gesellschaft wie die unsere an, die selbst Ausbeutung gutheißt? Das fragt Helena Waldmann und kleidet dafür die Akteure von „Made in Bangladesh“ am Ende um. Jetzt sind wir auf irgendeiner deutschen Tanzbühne. „5, 6, 7, 8“, treibt ein Choreograf wie zuvor der Fabrikaufseher an - und fordert dazu noch ein Lächeln ein. Im Ausbeutungssystem Kunst gehören die Tänzer, wie die Zahlen der Künstlersozialkasse immer wieder belegen, zu den Spitzenreitern, fristen ihr Dasein mit 800 Euro im Monat - und müssen dabei noch blendend aussehen. Wie hart man dafür ackert, deutet die Fouettés drehende Brit Rotemund auf der Leinwand an.

Boykottiert uns nicht! Das ist die Botschaft des Abends. Aber was tun, wenn man das Blut ahnt, das die Tänzerin im Schuh spürt? Wenn man die blutigen Tränen gesehen hat, die einem Mann aus den Augen quollen, bevor er mit seiner Frau im Arm von den Rana-Plaza-Trümmern erschlagen wurde?

Helena Waldmann dosiert Bilder und Emotionen sparsam. Und doch rüttelt sie auf. Wer „Made in Bangladesh“ gesehen hat, wird seinen Kindern die nächste Shopping-Tour nicht verbieten. Aber er wird sie ermuntern, mit Post an die Herren Hennes, Mauritz, Marchant und Co. ein wenig Druck zu machen für bessere Arbeitsbedingungen und Bezahlung der Menschen, die ihre Kleiderwünsche erfüllbar machen. Zerstörte Leben und Träume dürfen nicht der Preis sein. Und auch Theatermacher müssen lernen, dass die Erfüllung eines Bühnentraums alle Beteiligten glücklich machen sollte.

„Made in Bangladesh“: 29./30. 11., Tanzhaus NRW in Düsseldorf, 3. 12. Tollhaus in Karlsruhe, 9. 12. Burghof in Lörrach, 16. 12. Tafelhalle in Nürnberg