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Die Tänzerin Gret Palucca wagte viel, um möglichst viele zu erreichen. Vielleicht zu viel, wie die Biografie Susanne Beyers zu bedenken gibt.

Stuttgart - Braucht die Kunst den Betrachter? Bühnenkunst braucht ihn auf alle Fälle, ohne Publikum verpufft sie im Leeren. Aus diesem Grund wagte die Tänzerin Gret Palucca viel, um möglichst viele zu erreichen. Vielleicht zu viel, wie die Biografie Susanne Beyers zu bedenken gibt.

Ihre Karriere begann Gret Palucca in einer harten Zeit voller Entbehrungen. Als Schülerin von Mary Wigman war sie 1922 trotz Wirtschaftskrise und Inflation mit der kleinen Truppe der berühmten Ausdruckstänzerin auf Tournee, sie fuhren Holzklasse, wohnten in billigen Hotels, traten in kalten Sälen auf, hungerten. Für eine von ihnen kam der Erfolg dann sehr schnell. 1923 waren die Vorstellungen der Wigman-Truppe an der Berliner Volksbühne ausverkauft, weil alle die Palucca sehen wollten. Kritiker schwärmten von ihrer athletischen Sprungkraft, ihrer ungezügelten Art und ihrem frischen Charme.

Schnell war Gret Palucca, unterstützt auch von ihrem Mann, dem Dresdner Kunstmäzen Friedrich Bienert, angekommen. Zu schnell? Diesen Eindruck gewinnt man bei der Lektüre der Biografie, die Susanne Beyer über die Tänzerin im Aviva-Verlag veröffentlicht hat. Die "Spiegel"-Redakteurin konnte für ihre Einblicke ins Leben der Palucca deren bislang gesperrte Privatkorrespondenz sichten - und entdeckt in den Dokumenten nicht nur eine aufmerksame Zeitgenossin, die im regen Austausch mit vielen Bauhaus-Künstlern stand, sondern auch eine geschickte Agentin in eigener Sache, die im Dialog mit zwei deutschen Diktaturen über den eigenen Vorteilen die kritische Distanz vergaß.

Prinzip Palucca nennt Susanne Beyer diese fragwürdige Erfolgsformel, mit der die Tänzerin ein schwieriges deutsches Jahrhundert meisterte. Es bestand darin, so Beyer, "künstlerisches Vermögen und Ruhm zu einer Art Ware zu machen und mit den Machthabern immer wieder über die Bedingungen ihres künstlerischen Einsatzes zu verhandeln".

Mit dem Ruhm kam auch der Bruch mit der Lehrerin - zu unterschiedlich war das Temperament der beiden. Wigman war in ihrer Abgründe erforschenden Art eine typische Vertreterin des Spätexpressionismus. Palucca stand für eine Kunst der reinen Bewegung im Zeichen der Neuen Sachlichkeit und für eine Zeit, in der Frauen sportlich sein wollten und in der man nach den Kriegsjahren in der Kunst eine neue Fröhlichkeit suchte. Die Wigman mache ihr Publikum betroffen, schrieb ein Kritiker, "aber bei Gret ist das Publikum toll. Es ist dies eine unverkennbare Wirkung der technischen Höchstleistungen und der sehr viel leichteren Verständlichkeit ihrer Tanzkunst."

Palucca gründet in Dresden eine Schule, 1927 beschäftigt sie bereits sieben Lehrer. Ihre ganze Energie fließt in den Tanz, sie probt bis zur Erschöpfung, stachelt ihre Schülerinnen an: "Ihr müsst auch mit dem Kopf tanzen und manchmal mit den Beinen denken." Der Tanz ist für sie sicherlich ein Stück weit Therapie: Als 23-Jährige stand sie ohne Familie da, fühlte sich schuldig am Tod der Mutter. Der Vater war 1915 gefallen, ihr Bruder 16-jährig gestorben - unter ungeklärten Umständen, als Gas im Badezimmer austrat. Die Mutter bringt sich 1925 um, nachdem sich die Palucca weigerte, ihr weiterhin Geld zu geben. "Man spürt, dass sie Leistung ist, hier hat ein Mensch maßlose Leidenschaft gebändigt, um nicht zu verbrennen", schreibt der Kunstkritiker Will Grohmann in seinem Buch über die Tänzerin, mit der er eine Zeit lang zusammenlebte.

Die Palucca braucht den Tanz. Die Euphorie, die der Aufbruch aus allen Konventionen in der Kunst mit sich brachte, trägt sie. Ihre Sehnsucht nach dem großen Publikum aber ist so groß, dass sie um keinen Preis darauf verzichten will. Schnell arrangiert sie sich deshalb 1933 mit den Nazis, verbirgt, dass sie jüdische Großeltern hat, entlässt fast voreilig ihre jüdische Schulleiterin und trennt sich von ihrem Agenten Bernstein. "Ich hoffe, dass wir durch diese ganze Sache nicht menschlich unsere Beziehung verlieren", schreibt sie Bernstein, der den Brief als Schlag ins Gesicht empfindet.

Auf offizieller Seite finden das Mystizistische der Wigman, das Sportliche der Palucca viel Gefallen, der Ausdruckstanz komme, heißt es aus dem Propagandaministerium, im Gegensatz zum geistlosen Ballett "aus der Tiefe des deutschen Gemüts". Palucca, gewohnt, sich gegen Widerstände durchzusetzen, ist erfreut und 1936 bei der monumentalen Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele mit dabei. Dass Künstler hier zu Dekorateuren von Diktatur und faschistischen Ideen werden, fällt ihr nicht auf. Martha Graham etwa hatte ihre Teilnahme abgesagt, weil sie ihren jüdischen Tänzern das antisemitische Deutschland ersparen wollte.

Als eine Stuttgarter Ballettmeisterin Palucca wegen eines alten Aufrufs als Kommunistin denunziert und ihre Abstammung überprüft wird, erfährt sie die Schikanen des Systems am eigenen Leib. 1939 muss sie ihre Schule schließen, Auftritte werden rar. Und doch ist sie bereit, sich mit dem nächsten Unrechtssystem, dem der DDR, zu arrangieren. Das räumt der berühmten Tänzerin allerlei Privilegien ein. Doch weil der moderne Tanz nun als dekadent und zu individuell gilt, um mit den Ansprüchen eines sozialistischen Realismus in Deckung gebracht zu werden, mischt sich der Staat zugleich immer mehr in Paluccas Schule ein.

Überaus spannend zeichnet Susanne Beyer das Leben der Tänzerin nach, betrachtet ein Jahrhundert deutscher Geschichte aus einer besonderen Perspektive. Sie macht klar, wieso ausgerechnet die aus dem Korsett des Balletts befreite Kunstform sich für die Ideologien des Nationalsozialismus und dann des sozialistischen Realismus nutzen ließ - und hält kritische Kommentare nicht zurück. "So hat Palucca in Kauf genommen, (...) dass in entscheidenden Momenten ihrer Karriere ihre große Botschaft - dass nämlich Tanz Befreiung und ansonsten nichts anderes als Tanz sein soll - sich ins Gegenteil verkehrt hatte."

Susanne Beyer: Palucca - Die Biografie. Aviva-Verlag, Berlin. 432 Seiten. 24,80 Euro