Hanne-Lore Wittkuhn in ihrem Haus. Foto: Martin Stollberg

Frau Wittkuhn und Herr Tetzlaff sind frisch verliebt. Noch trennen sie 800 Kilometer. Doch Hanne-Lore Wittkuhn folgt ihrem Herzen und zieht von Aidlingen-Dachtel in den hohen Norden: Teil II der StZ-Serie „Späte Liebe“.

Aidlingen - Frau Wittkuhn und Herr Tetzlaff sind frisch verliebt, sie wollen rasch zusammenziehen. Noch trennen sie 800 Kilometer. Frau Wittkuhn nimmt Anlauf zum Weitsprung in ein neues Leben.

Herr Tetzlaff ist zu Besuch. „Schauen Sie, das ist mein neuer Partner“, ruft Frau Wittkuhn stolz über den Gartenzaun hinweg, „der ist aus Norddeutschland!“ „Ah ja!“, antwortet der Nachbar und beobachtet, wie Frau Wittkuhns neuer Partner Frau Wittkuhn den Arm um die Schultern legt. Sie erzählt: „Wir haben uns im Norden ein Haus gemietet – direkt am Strand, mit Blick aufs Meer! Bei Flensburg da oben, fast schon an der dänischen Grenze!“ Der Nachbar nickt: „Dann kommt jetzt tatsächlich der Abschied?“, fragt er. „So ist es“, antwortet Hanne-Lore Wittkuhn, nun doch etwas nachdenklich. „Ich bin ja selbst fast erschrocken, wie schnell das ging mit dem Hausverkauf. Nur noch ein paar Wochen, dann kommt schon der Umzugswagen.“


Inzwischen ist das Paar in seiner neuen Heimat angekommen. Zu dieser Geschichte gibt es inzwischen auch einen Film. Hier der Trailer dazu:

DIE ZUKUNFT GEHÖRT UNS von Marisa Middleton (Trailer) from Indi Film on Vimeo.


Vor nicht allzu langer Zeit hätte sich Hanne-Lore Wittkuhn nicht vorstellen können, wie schnell sich alles ändern kann. Die Nachricht, dass ihr Ehemann auf seinem Boot in Kroatien einen Unfall hatte, kam im August 2010 völlig unerwartet. Frau Wittkuhn ließ ihn nach Deutschland fliegen und versuchte, alles medizinisch Mögliche zu veranlassen – vergebens. Ihr Mann erlag den Verletzungen.

Plötzlich ist sie ganz allein

Frau Wittkuhn trauerte sehr, sie hatte noch so viel mit ihrem Mann vorgehabt. Vor 45 Jahren waren sie als „Reig’schmeckte“ aus Dortmund nach Dachtel gekommen, einem kleinen Teilort von Aidlingen im Landkreis Böblingen. Hier hatten sie einen Sohn und eine Tochter großgezogen. Nun, im Herbst 2010, saß Frau Wittkuhn plötzlich ganz alleine in dem großen Haus.

Auch Jens-Peter Tetzlaff hatte seine Frau gerade erst verloren und versuchte, sich an sein Witwerleben in Bockholm bei Flensburg zu gewöhnen. Zum Glück hatte er seine ehrenamtliche Arbeit mit den Rettungshunden, sonst wäre ihm daheim die Decke auf den Kopf gefallen.

Frau Wittkuhn wäre Herrn Tetzlaff niemals begegnet, wenn sie nicht eine enge Freundin in Norddeutschland hätte. Die kündigte eines am Telefon an: „Hanne, ich geb’ eine Bekanntschaftsannonce für dich auf!“ Frau Wittkuhn wehrte sich: „Lass mich mit diesem Anzeigenkruscht in Ruhe“, sagte sie, denn auch wenn sie sich einsam fühlte, lag ihr nichts ferner, als einen neuen Mann kennenzulernen. Doch die Annonce wurde gegen ihren Willen gedruckt – im „Flensburger Tageblatt“.

Die Folgen einer ungewollten Annonce

Herr Tetzlaff überblättert normalerweise die Bekanntschaftsanzeigen in der Zeitung. Doch an den drei Wörtern „Süddeutsche sucht Norddeutschen“ blieb sein Blick seltsamerweise hängen. Irgendetwas faszinierte den 68-Jährigen. Vielleicht war es die Möglichkeit einer Beziehung auf weite Distanz, die ihn dazu brachte, sich an den Computer zu setzen und einen Brief mit „Hallo, liebe Unbekannte“ zu beginnen. Er steckte ihn in einen Umschlag, und legte ihn auf seine Kommode. Schließlich warf er den Brief in den Papierkorb.

Tage später landete der Umschlag in der großen Mülltonne ganz oben, direkt vor Herrn Tetzlaffs Augen. Ein Wink des Schicksals? Herr Tetzlaff fischte den Brief kurzerhand heraus. Hastig, damit ihn nicht wieder ein Zweifel überkommen konnte, klebte er eine Marke drauf und warf ihn in den nächstbesten Briefkasten.

Frau Wittkuhn wurde von Briefen überschwemmt. Manche Bewerber schrieben von ihren Villen auf Sylt, ihren Yachten und ihren schnellen Autos, andere von lustvollen Begierden. Frau Wittkuhn fand diese Briefe blöd. Nur die wenigen Worte eines „bodenständigen, ehemaligen Seemanns, der nicht alleine sein möchte“ gefielen ihr. Sie wählte seine Telefonnummer.

Anruf beim bodenständigen Seemann

Herr Tetzlaff meldete sich mit seiner rauen, tiefen Seebärenstimme: „Moin.“ Frau Wittkuhn sagte:„Guten Tag, Sie hatten mir auf die Anzeige geantwortet!“

„Ja, wissen Sie, Frau Wittkuhn, ich habe den Brief zwar geschrieben, aber eigentlich habe ich überhaupt keine Zeit. Ich arbeite jeden Tag mit Rettungshunden. Und Sie wohnen ja da unten im Süden.“ Dennoch bot er der Anruferin das Du an, „damit wir mal ein bisschen zu Potte kommen, nech? Ich bin der Peter.“ – „Ich bin die Hanne.“

So ging’s los. Fortan telefonierten Hanne und Peter täglich, oft mehrere Stunden, manchmal bis tief in die Nacht.

Dann, im Oktober 2011, hatte Peter ein Seminar für Rettungshundeführer in der Nähe von Stuttgart. Auch das: ein Zufall. Er besuchte sie in Dachtel. Hanne hatte Gulasch gekocht. Es schmeckte ihm. Es wurde spät. Wo sollte er schlafen? Sie bot ihm an: „Hotel, Couch oder Bett.“ Er entschied sich fürs Bett, „weil’s am bequemsten ist“.

Der Morgen danach

Am nächsten Morgen schaute Hanne in den Spiegel. Plötzlich hatte sie Zweifel, ob sie nicht zu alt für eine neue Liebe sei. Mit 70 Jahren! Beim Frühstück sprach sie über ihre Bedenken. Peter sagte: „Hanne, du bist nicht alt, du bist eine Granate!“

Kurz vor Weihnachten fuhr Hanne zum ersten Mal zu Peter nach Bockholm an die Ostsee. Als sie Fotos von seiner verstorbenen Frau sah, bekam sie Angst, dass es falsch sein konnte, noch einmal von vorne zu beginnen. Hatten sie und Peter ihr Leben nicht schon gelebt? Sollte man sich nach dem Tod seines geliebten Partners damit abfinden, dass man alleine bleibt? Peter gab sich viel Mühe, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Der raue Seebär zeigte sich von seiner sanfte Seite.

Am Silvesterabend führte er sie zu einem festlichen Essen bei Kerzenschein ins Glücksburger Schloss aus. Als das neue Jahr mit einem Feuerwerk begrüßt wurde, stand für beide fest: „Von nun an wollen wir für immer zusammen sein.“

Was passiert mit dem Grab in Dachtel?

Peter könnte nicht in Süddeutschland leben. Er braucht das Wasser, den Wind, die Weite wie die Luft zum Atmen. Er kann nicht fort von seinen Rettungshunden. „Er ist wie ein alter Baum“, sagt Hanne. Würde sie ihren Peter in den Kreis Böblingen verpflanzen, würde er womöglich eingehen. Bleibt nur: sie muss zu ihm.

„Du willst zu einem fremden Mann in den Norden ziehen?“ Ungläubig reagierten ihre Freundinnen auf die Nachricht. „Bist du sicher, dass der kein Trinker oder Schläger ist? Und was passiert mit dem Grab deines Mannes?“ Eigentlich, erzählt Hanne-Lore Wittkuhn, sei sie eine Zweiflerin. Doch diesmal sage ihr Herz, dass der Weg, den sie gehen will, der richtige sei. „Man kann doch sein Leben nicht nach einem Grab ausrichten!“ Eine Nachbarin wird auf dem Dachteler Friedhof nach dem Rechten schauen, „und immer, wenn ich im Süden bin, werde ich zum Grab meines verstorbenen Mannes gehen, das ist ganz klar“.

Noch wenige Tage bis zum Umzug. Plötzlich quälen Hanne-Lore Wittkuhn üble Rückenschmerzen. Eine Nacht lang kann sie nicht schlafen, am nächsten Morgen diagnostiziert der Arzt: Bandscheibenvorfall. Sie bekommt Spritzen und eine Stromtherapie. Platzen ihre Träume?

Aufbruch in ein neues Leben

72 Stunden später: die Garagentür ist geöffnet. Hanne-Lore Wittkuhn taucht in dem engen Gang neben ihrem Auto auf. Ganz langsam bewegt sie sich, unter dem Arm mehrere zusammengefaltete Umzugskisten. Vor der Garage stellt sie die Kartons ab, atmet schwer und fasst sich an den Rücken. Zum ersten Mal wirkt sie so alt, wie sie ist. Sie wirkt wie eine 70-Jährige.

Marlies, eine Freundin, hilft. „Welcher Schraubenschlüssel passt da? Inbus?“ Die beiden Frauen stehen ratlos vor der großen Schrankwand. „Guckst du mal unten?“ Marlies stapft in den Keller. „Da ist kein Werkzeug.“ – „Oh, dann hab’ ich es schon eingepackt.“ Marlies wird Hanne beim Umzug begleiten, beim Einräumen helfen und anschließend ein paar Wochen Urlaub machen. „Ich würde sehr gerne in Norddeutschland wohnen“, sagt sie. Und einen neuen Partner würde sie auch gerne finden. So wie Hanne. Das Telefon klingelt, Peter ist dran. „Schatz, stell dir vor, wir wollten den großen Schrank abbauen und haben keinen dicken Inbusschlüssel. Würdest du Werkzeug mitbringen?“

Alle packen mit an

In zwei Wochen ist es so weit: Peter wird mit Kollegen von seiner Hundestaffel in einem Transporter von Flensburg nach Dachtel fahren. Sein Schwager und dessen Frau kommen getrennt mit einem Lastwagen. Sein Sohn wird extra aus Berlin anreisen, um der neuen Gefährtin seines Vaters beim Umzug zu helfen. Und auch Hanne-Lore Wittkuhns erwachsene Kinder sind mit von der Partie. Drei Tage lang packen alle an, räumen das Haus in Dachtel aus. Übernachtet wird gemeinsam im Wohnzimmer auf einem Lager aus Isomatten und Luftmatratzen. Unweigerlich werden sich alle sehr nahe kommen.

Am 23. Juni 2012 wird Hanne-Lore Wittkuhn zum letzten Mal in ihrem Haus aufwachen. Viereinhalb Jahrzehnte hat sie in Dachtel gewohnt. Nach dem Frühstück geht es ab in den Norden. Dann beginnt für Hanne-Lore Wittkuhn ein neuer Lebensabschnitt mit ihrem neuen Lebenspartner.