Fritz Kuhn vor dem Stuttgarter Rathaus: Am 7. Januar wird der langjährige Grünen-Vordenker dort den Christdemokraten Wolfgang Schuster ablösen. Foto: dpa

Die OB-Wahl in Stuttgart werde klären, ob diese Stadt noch immer der CDU gehöre. So sprach Fritz Kuhn vor der Wahl. Seit Sonntag ist klar: Die CDU ist in der Landeshauptstadt komplett entmachtet.

Stuttgart - Für die CDU hat sich eine Katastrophe in drei Akten vollendet. Zuerst verlor sie in Stuttgart die Vormachtstellung im Gemeinderat an die Grünen, dann den Job des Ministerpräsidenten, jetzt noch den OB-Sessel. Die CDU ist am Boden. Und die Bürger sind gespannt: Wie wird das sein, wenn mit Fritz Kuhn erstmals ein Grünen- OB in einer Landeshauptstadt waltet?

Einen Vorgeschmack holten sich ein paar Hundert Neugierige drei Tage vor der Wahl. Im Württembergischen Kunstverein parlierten Kuhn und der Münchner OB Christian Ude (SPD) darüber, wie heutzutage Stadtpolitik in einer Großstadt funktioniert. Kuhn wirkte, als wollte er sich das Wort des früheren SPD-Kanzlers Gerhard Schröder von der Politik der ruhigen Hand zu eigen machen: gelassen, sachlich, analytisch. Nur leider nicht ganz so humorvoll wie Ude.

Nein, dass eine fahrige und unberechenbare Amtsausübung zu erwarten wäre, ist aus Kuhns politischer Handschrift nicht herauszulesen. Aber die Ahnung deutlicher Korrekturen. Bisher reiste ein bienenfleißiger OB Wolfgang Schuster (CDU) durch die Welt, ließ seine Erfahrungen in Papieren aufarbeiten und überließ die Umsetzung zu oft dem Zufall. Künftig wird vielleicht ein zu ausgefeilteren Denkmodellen neigender OB Kuhn noch programmatischer arbeiten.

Der Wandel der Parteienlandschaft beförderte Kuhn in den Landtag

Unterschätzen sollte man ihn nicht. Das hat man auch in Tübingen kapiert, wo das 1,68 Meter große „Fritzle“ vor 32 Jahren manchmal belächelt wurde. Damals, als Kuhn die SPD wegen ihrer Atompolitik verlassen hatte und an einer neuen Partei mitbastelte. Der Wandel der Parteienlandschaft beförderte ihn in den Landtag. Bald attestierten auch politische Gegner und Journalisten dem Sprachwissenschaftler analytische Schärfe, rhetorische Brillanz und Verzicht auf billige Polemik. Ministerpräsident Lothar Späth horchte auf und legte die Akten weg, wenn Kuhn im Landtag redete. „Er interessiert mich eben“, sagte Späth.

Das beruhte auf Gegenseitigkeit. „Der innovative Diskurs findet im Land allein zwischen Lothar Späth und den Grünen statt“, verkündete Kuhn während seiner ersten Zugehörigkeit zum Landtag in den Jahren 1984 bis 1988. Er fühlte sich als Späths Widerpart im Ringen um die „Ideenführerschaft“. Er sah sogar eine Wesensverwandtschaft, weil auch er sich als Wertkonservativer fühlt, dem klar ist, dass „man viel verändern muss“, wenn man Werte erhalten will. Im Prinzip, sagte Kuhn, sei die Zusammenarbeit mit jedem möglich.

Flügelkämpfe zwischen Realpolitikern und Fundamentalisten überwinden

Der Grüne mit dem jungenhaften Charme, der intellektuelle Frechdachs mit dem Oberlippenbart – das war einmal. Fritz Kuhn heute wirkt naturgemäß gesetzter, manche Gegner sagen: alt. Einige Sorgenfalten haben sich in sein Gesicht gegraben. Nicht beim Intermezzo als Professor an der Stuttgarter Merz-Akademie, aber nach der Rückkehr in den Landtag und in die Parteiarbeit. 1991 ließ er sich an die Spitze der Landespartei wählen. Sein Ziel: die Flügelkämpfe zwischen Realpolitikern und Fundamentalisten zu überwinden, die Partei inhaltlich zu öffnen. Geliebt war der Reformer und Ober-Realo nicht bei allen. Aber kaum jemand sprach ihm „Integrationskraft“ in der noch jungen, chaotischen Partei ab.

Dass auf ihn kein Vergnügen warten würde, war Kuhn auch klar, als er sich im Jahr 2000 nach Berlin in den Bundesvorstand der Grünen wählen ließ – „Fischers Fritz“ gab wohl dem Drängen seines Freundes und heimlichen Parteichefs Joschka Fischer nach. Man musste die in der Wählergunst abgerutschte Partei „wieder auf die Beine bringen“. Zuvor hatte Kuhn schon die Finanzthemen verhandelt, als die SPD und die Grünen im Bund ihre Koalition bildeten. Er hat es sich nicht leichtgemacht in der Politik. Seinen Mitstreitern manchmal auch nicht. Es gab Dämpfer wie den, als er 1986 in der neunköpfigen Landtagsfraktion äußerst knapp als Chef wiedergewählt wurde. Oder als er im Jahr 2002 in der Bundestagsfraktion ins zweite Glied musste. Manche murrten über seine Art der Führung. Andere, auch die Medien, lobten, dass er schwierige Charaktere zu einer schlagkräftigen Truppe zusammengeschweißt habe. „Man darf nicht vergessen“, sagt sein ungleicher, weil barocker und lauter Freund und Ex-Fraktionskollege Rezzo Schlauch, „es gab in den 80er und 90er Jahren gewaltige Unruhe bei uns. Wir hatten uns noch nicht sortiert.“ Kuhn hat damals in Stuttgart und später in Berlin viel gelernt. „Er hat gewaltige Verhandlungserfahrung“, sagt Schlauch.

Kuhns Heimkehr von Berlin nach Stuttgart ist perfekt

Bei alledem blieb Kuhn in etwa so, wie er immer war: ernst, unzynisch, konstruktiv, bereit zur Arbeit für bessere Verhältnisse. Die Behauptung, es gebe zu diesem und jenem keine Alternative, ärgert ihn. Politik war und ist sein Ding, von Postenjägerei hat er sich schon früher distanziert. Trotzdem versuchten der OB-Kandidat Sebastian Turner und die CDU ihn als abgetakelten Politbürokraten vorzuführen, der ein Pölsterchen fürs Altenteil anstrebt.

Das traf ihn. Verständlicherweise. Der politisch völlig unerfahrene Werbeprofi Turner hielt ja schon seine Verhandlungserfahrung aus dem Art Directors Club für eine Empfehlung zum Vorsitz im Gemeinderat. Mit seinen Helfern durchsuchte der parteilose Turner, der der CDU einen Rest der Macht retten sollte, die Archive nach vermeintlichen politischen Fehltritten von Kuhn wie dem Liebäugeln mit der City-Maut. Damit zwangen sie Parteifreunde von Kuhn wie Tübingens OB Boris Palmer, just vor dem zweiten Wahlsonntag noch eilends abzuschwören. Warum Kuhn für sie so gefährlich war, scheinen Turner und Co. im Archiv aber nicht entdeckt zu haben.

Die Herausforderung im Rathaus ist enorm

Jetzt ist es passiert. Kuhns Heimkehr von Berlin nach Stuttgart ist perfekt. Gut möglich allerdings, dass er gleich wieder zum Aufbruch bittet. Zum geistigen. Sein Heimatbegriff ist nämlich am Philosophen Ernst Bloch geschult. Heimat sei nicht nur eine Stadt oder ein Ort wie die Kindheit, zu denen man zurückgeht, sagt Kuhn. Da gehe es auch um Dinge, die in der Heimat erst noch zu verwirklichen wären. Der Kurs ist abgesteckt. Kuhn will die Bürger in die großen Strukturentscheidungen einbeziehen. Er will als OB mit großer landes- und bundespolitischer Erfahrung „gegenhalten“, wenn Übergriffe von oben kommen. Er will den Standort ökologisch modernisieren. „Und im Städtebau muss sich Stuttgart am meisten ändern.“ Beim Ringen um weniger Staus brauche es auch „regionale Führung“ .

Aber allein schon die Herausforderung im Rathaus ist enorm. Kuhn muss sich auf die kommunale Ebene umstellen, ins Räderwerk einpassen, aber auch dessen Lauf beeinflussen. Dabei wird der 57-Jährige Tempo machen müssen, weil ihm nur acht Amtsjahre möglich sind. Kuhn, warnte Alt-Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) im Wahlkampf für Turner, sei natürlich ein Debattenredner. Aber in einer großen Verwaltung stünden ihm Gehversuche bevor.

Nichts deutet darauf hin, dass der scheinbar emotionslose Grüne parteipolitisch vorgehen wird. Er will „die ganze Stadt repräsentieren“. Manchmal aber wirkt er allzu ernst. Haben die Stuttgarter einen Mann ohne Humor gewählt? Nein, sagt Schlauch. Er wisse, dass es noch einen anderen Kuhn gibt. Nicht nur den, der politische Arbeit im Kant’schen Sinne ernst nimmt, sondern auch einen witzigen und lebensfreudigen.