Das Stuttgarter Haus Ketterer von Chen Kuen Lee aus dem Jahre 1954. Foto: Museo

Chen Kuen Lee gehörte zu den bedeutendsten Architekten des Organischen Bauens. Wenn die Landschaft ins Haus kommt, davon war der 2003 gestorbene Architekt überzeugt, folgt der Raum der Landschaftsgestalt. Die Galerie im Stuttgarter Institut für Auslandsbeziehungen zeigt jetzt Arbeiten von ihm.

Stuttgart – Wer kennt es nicht, das Plakat von Klaus Staeck aus dem Jahr 1972? „Deutsche Arbeiter! Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen“. Die darauf abgebildete Villa steht freilich nicht im Tessin, sondern in der Stuttgarter Eduard-Pfeiffer-Straße. Es ist auch keine Villa, sondern ein Apartmenthaus, dem Staeck in künstlerischer Freiheit das Obergeschoss abgeschnitten hat. Entworfen wurde das Haus von dem 1915 in Wuxing westlich von Schanghai geborenen Architekten Chen Kuen Lee, und der wiederum gehört zu einer Handvoll der bedeutendsten Architekten des Organischen Bauens, wie es der Biberacher Hugo Häring und der Berliner Hans Scharoun ab 1914 und zwischen den Kriegen propagiert hatten.

Lee, ein kleiner, schmächtiger Mann, der immer in etwas zu groß geratenen Anzügen zu stecken schien, sprühte vor Engagement und war nicht zu bremsen, wenn es darum ging, von seiner Architektur zu erzählen. Etwa wie er in der berüchtigten Berliner Trabantenstadt Märkisches Viertel von 1965 bis 1970 1250 Wohnungen baute, 25 verschiedene Typen, maßgeschneidert für alle familiären Bedürfnisse, in bis zu 20-geschossigen, geschwungenen Baukörpern, die er wie ein Bergmassiv auf- und abtreppte; es sind noch die anregendsten Bauten der längst nicht mehr zeitgemäßen hypertrophen Wohnanlage. Fotografen auf der Suche nach attraktiven Ansichten des Märkischen Viertels stellen ihre Stative immer vor Lees Wohnanlage auf. Bis zuletzt hatte er dort eine Wohnung, wo er 2003 88-jährig starb.

Die unverkennbaren Verwandtschaften dieser Wohnblocks zu Hans Scharouns Wohnungsbauten, etwa den Hochhäusern Romeo und Julia in Stuttgart-Zuffenhausen, kommen nicht von ungefähr, denn nach seinem Studium in Braunschweig und Berlin bei Bruno Taut und Hans Poelzig arbeitete Lee während des Krieges bei Scharoun und folgte ihm anschließend an das (Ostberliner) Institut für Bauwesen, bis er sich im Zuge der Teilung der Stadt nach Westberlin orientierte und dort 1953 selbstständig machte.

Mehr als andere Mitarbeiter im Umkreis der Architekten Taut, Häring und Scharoun ließ er sich von der Idee der organischen Architektur infizieren, wohl weil er eine innige Verbindung zur östlichen Lebensphilosophie entdeckte: die enge Beziehung der Lebenswelt zur Natur und die in die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eingebettete Individualität. In der Folge entwickelte er sich zu einem der wenigen erfolgreichen und konsequenten Vertreter des Organischen Bauens, die dessen Ideenwelt zeitlebens treu geblieben sind.

Was Hugo Häring propagierte, das Wohnen als interaktiver Prozess von Individuen, verortet in zentralen offenen Wohnbereichen und Zonen individueller Rückzugsmöglichkeit, Distanz und Nähe gleichzeitig ermöglichend, war ihm Programm, das er noch im kleinsten Apartment zu verwirklichen suchte. Er sah ein Wohnhaus als Organismus, nicht als „Wohnmaschine“ wie einst Le Corbusier. Die organhafte Vorstellung von Architektur – für jede Tätigkeit der maßgeschneiderte Raum und die Verbindung von Wohnlandschaft und Naturlandschaft – ließ sich freilich am reinsten im Einfamilienhausbau realisieren. Lee baute zahlreiche Wohnhäuser, zum Teil privilegierte Villen, die diesem Prinzip huldigen. Dass sich der Raum vollständig zur Sonne öffnet, ist wichtiger als der rechte Winkel. Wenn die Landschaft ins Haus kommt, folgt der Raum der Topografie. Podeste schieben sich ins Blickfeld, und luftige Treppen balancieren atemberaubend durchs Bild.

Decken bäumen sich auf, Fenster neigen sich dem Himmel zu, Balkone schwingen aus, und wie ein „ordentliches“ Dach auszusehen hat, danach hat Lee nie gefragt. Der Begriff der „Wohnlandschaft“ scheint wie für seine Architektur erfunden. Dass er mit namhaften Gartenarchitekten wie Hermann Mattern kongenial zusammenarbeitete, ist keine Überraschung. Insbesondere Hannes Haag hat mit ihm viele symbiotische Garten-Haus-Ensembles geschaffen.

Ausgestattet mit kongenialen Designermöbeln der 50er und 60er Jahre, sind diese Häuser heute von ungeheurer Aktualität und Präsenz, was man vom größten Teil der Architekturproduktion der 1950er bis 1970er Jahre nicht sagen kann. So ist es nicht nur eine bauhistorische Chronistenübung, wenn die Galerie des Instituts für Auslandsbeziehungen dem Architekten Lee nun eine Werkschau widmet, sondern es ist auch ein Vergnügen, die präsentierten, noch immer elegant wirkenden Häuser mit dem Blick zu durchwandern und die anschaulichen Modelle zu studieren. Deren Ideenwelt ist jedenfalls durchaus aktuell, deren Formenrepertoire nicht aus der Mode. Michael Koch, früherer Mitarbeiter Chen Kuen Lees, hat die Ausstellung kuratiert und lässt in Zusammenarbeit mit einigen Koautoren im sehr gut bebilderten und ausgestatteten Katalog die Arbeit Lees lebendig werden.

Wer Lees Architektur im Maßstab 1:1 erleben wollte, besuchte zuletzt die Schau „Chen Kuen Lee 1905–2003 – Das Erleben von Raum und Zeit“. In der Galerie Sonnenberg in einem denkmalgeschützten „Kettenhaus“ Chen Kuen Lees auf dem Gelände der Baumschulen M. Hörmann in Degerloch zeigten Michale Koch, Hans-Joachim Kraft und Dieter M. Hörmann zudem nicht realisierte Entwürfe Lees.