Ein Stück, das Ballett und Showbühne zusammenbringt: Robert Robinson in „Pineapple Poll“ Foto: Stuttgarter Ballett

Wenig sexy ist der Titel des neuen Abends, den das Stuttgarter Ballett seit dieser Woche wieder im Opernhaus tanzt. Dabei bietet „Cranko-Klassiker“ zwei Hingucker, die nicht nur das klassische Ballettpublikum ansprechen können.

Stuttgart - Ein Klassiker ist ein zeitloses Werk, das über schnelllebigen Moden steht. Klassiker sind die großen Choreografien John Crankos, die das Stuttgarter Ballett bis heute im Repertoire hat, also fast alle. Ein wenig irreführend und nicht sehr sexy ist deshalb der Titel des neuen Ballettabends, den die Kompanie seit dieser Woche wieder im Opernhaus tanzt. Dabei bietet „Cranko-Klassiker“ zwei Hingucker, die nicht nur das klassische Ballettpublikum ansprechen können.

Von Anfang an Cranko? Cranko ganz jung? Das wären treffendere Titel, denn jung sind die beiden Einakter „Pinapple Poll“ und „The Lady and the Fool“, die den Abend bilden, in vielerlei Hinsicht. Besonders gilt das bei der Wiederaufnahme für den Ballett-Cartoon um die Händlerin Poll, die wie alle Mädels im Hafen von Portsmouth nur Augen für den schmucken Kapitän Belay hat. Seit der Uraufführung in London sind zwar 65 Jahre vergangen, und doch tanzt in Stuttgart die Zukunft: Ausschließlich aus Cranko-Schülern setzt sich das Ensemble aus Matrosen und Möchtegernmatrosen zusammen, das leichtfüßig Crankos zugespitzter Komik und den Solisten aus der Kompanie den Boden bereitet.

Robert Robinsonließ schon 2011, als die John-Cranko-Schule „Pineapple Poll“ tanzte, in der Rolle des obersten Seefahrers filmreif die Beine schlottern. Damals war er noch Schüler, jetzt adelt er im Status eines Solisten die Höhenflüge des Belay mit unerschütterlicher Souveränität. Und auch alle anderen - Rocia Aleman als naive Kapitänsbraut Blanche, Elena Bushuyeva als ihre Gouvernante, Adhonay Soares da Silva als stürmischer Poll-Verehrer und allen voran Fernanda De Souza Lopes als kesse Poll - zeigen als Absolventen der Cranko-Schule dem aktuellen Nachwuchs, wohin der Weg führt.

Beide Klassiker entstanden in John Crankos Zeit in London

Jung sind diese „Cranko-Klassiker“ auch, weil sie den Beginn einer ungewöhnlichen Choreografenkarriere markieren und im Keim das tragen, was Cranko später in Stuttgart berühmt machte: ein erzählerisches Talent, das mit erstaunlicher Leichtigkeit und großem dramaturgischen Geschick Tanz, Musik und Bühne zum Räderwerk einer Geschichte macht, die ganz selbstverständlich in Gang kommt und ebenso ihre Darsteller tänzerisch zu Höchstform anspornt.

Beide Klassiker waren in Crankos Londoner Zeit entstanden. 1946 war der Südafrikaner als Tänzer zum Sadler’s Wells Theatre Ballet gekommen und choreografierte bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bot. Viele Opernballette waren dabei und kleine Erfolge, sodass er im Alter von 23 Jahren zum Hauschoreografen avancierte. Gleich in seiner ersten Saison gelang ihm 1951 mit „Pineapple Poll“ ein toller Erfolg, der im jung gebliebenen Bühnenbild von Osbert Lancaster, mit komischen, unbändigen Charakteren und einem musicalhaften Show-Gestus bis heute Tänzer inspiriert - und sein Publikum begeistert.

Ballettintendant Reid Anderson blickt zurück

In „The Lady and the Fool“ bringt John Cranko dann nur drei Jahre später die großen Gefühle ins Spiel, deren Klaviatur er so brillant beherrschen sollte. Constantine Allen und Louis Stiens geben ein wunderbar anrührendes Clownspaar, das auf dem Proszenium die Geschichte um Freundschaft und wahre Liebe eröffnet. Wie die beiden sich auf einer Parkbank für die Nacht einrichten, bleibt ein gültiges Porträt von zwei Ausgestoßenen. Durch die Laune einer kapriziösen Schönen landen sie plötzlich auf der angesagten Party; und in Zeiten von Flüchtlingsströmen sieht man die beiden, die auftauchen, wo man sie nicht erwartet, mit neuen Augen. Egal wie feurig Pablo von Sternenfels als mondäner Gastgeber in die Lüfte geht, egal wie hochtourig Daniel Camargos General Pirouetten dreht, egal wie schmelzend sich David Moore als arroganter Prinz in seine Schritte schmiegt: Alicia Amatriain hat als Lady nur Augen für den romantischen Clown. Tänzerisch nimmt hier manches „Onegin“ vorweg, aber auch klassische Balancen haben Cranko inspiriert. Die gehören zwar nicht zu Amatriains Stärken; doch die Spanierin füllt dafür jede Geste mit dramatischem Gewicht.

Ganz gegenwärtig wirkt „The Lady and the Fool“ nicht nur wegen eines brillant auftanzenden Ensembles. Auch das schlichte Bühnenbild, das Astrid Behrens als junge Rose-Schülerin für die Wiederaufnahme 2001 neu gestaltete, gibt dem Tanz einen aktuellen Rahmen. Und so ist auch dieser Cranko-Klassiker fit für Reid Andersons Rückblick in dieser Saison - auf 20 Jahre als Intendant des Stuttgarter Balletts und auf die Zeit davor als Tänzer unter John Cranko.