1977 in Giebel: Kinder mit Lederhose, Dirndl und „Frankensteinfrisur“- mehr aus den vergangenen Jahren in unserer Bildergalerie Foto: Wanner / Stuttgart-Album

Zwischen Party-Uniform und Festtagsgewand: Die Kleidung für den Wasen ist zum Massenphänomen geworden, das noch immer für hitzige Debatten sorgt. Eine Leserin hat dem Stuttgart-Album ein Foto von 1977 geschickt, auf dem Kinder Lederhose und Dirndl tragen. Sie schreibt: „Tracht hat Tradition – auch in Giebel.“

Stuttgart -Zwischen Party-Uniform und Festtagsgewand: Die Kleidung für den Wasen ist zum Massenphänomen geworden, das noch immer für hitzige Debatten sorgt. Eine Leserin hat uns ein Foto von 1977 geschickt, auf dem Kinder Lederhose und Dirndl tragen. Sie schreibt: „Tracht hat Tradition – auch in Giebel.“ -

Die Hochhäuser im Hintergrund des Bildes von 1977, das unser Geschichtsprojekt Stuttgart-Album via Facebook von Simone Wanner bekommen hat, dürften nicht mehr gewachsen sein. Im Gegensatz zu den Kindern, die vorne am Wiesenrand für ein Dia des Papas stehen.

Wir sehen einen Jungen mit kurzer Lederhose, der mit seinem Roller vor der Skyline von Stuttgart-Giebel gerade eine Pause macht. Das Mädchen neben ihm trägt rote Strümpfe zum Kinderdirndl und dürfte ganz schön stolz gewesen sein auf den Babywagen, mit dem es seine Lieblingspuppe spazieren gefahren hat. Heute ist das Mädchen von 1977 eine Frau, die sich über das Foto amüsiert, aber gleichzeitig peinlich berührt ist: „Oh diese Frankensteinfrisur!“

Auf der Facebook-Seite des Stuttgart-Albums hat dieses Foto viele Erinnerungen geweckt. „In dieser Zeit“, schreibt Peter Dobner, „liefen viele Jungs in Lederhosen rum.“ Nicht jede Mutter habe damals eine Waschmaschine gehabt – da sei eine Lederhose für spielende Jungs äußerst praktisch gewesen: „Man musste sie nur ausklopfen, fertig.“

Peter Kodweiß bemerkt: „So war man in den Fünfzigern und Sechzigern in ganz Deutschland angezogen. Geht mal ins Bergische Land – da trägt jeder zweite Mann die altmodische Lederhose.“ Demnach ist derartige Kleidung keine Spezialität von Bayern gewesen. Die Freude an der Tracht ist keine Erfindung der Neuzeit, weiß Brauchtumsexperte Wulf Wager: „Man machte sich schön für das Volksfest, dessen Ursprung das Landwirtschaftliche Hauptfest war, lief im Sonntagsstaat an der Königsloge vorbei.“ Im Nazireich hätten viele Frauen vom Süden bis in den Norden des Landes in „völkischer Überhöhung“ Dirndl getragen, auch in Stuttgart. Nach dem Krieg habe man damit aufgehört, um nicht in den Verdacht zu geraten, der braunen Vergangenheit zu folgen.

In den 1990ern war es auf dem Volksfest den Kellnerinnen vorbehalten, Tracht zu tragen. „Mein Vater Walter Weitmann hat uns Kinder und das gesamte Personal damit eingekleidet“, erinnert sich Conny Weitmann, die Tochter des legendären Festwirts.

Neuerdings sind Besucher ohne Tracht in der Minderheit, was auf unserer Facebook-Seite für Unverständnis, aber auch für Zustimmung sorgt. Hier zwei extreme Positionen. Peter Kraus findet: „Nichts gegen die bayerische Tracht, aber die gehört nach Bayern. Schön ist es allerdings jedes Jahr aufs Neue, die Leute zu sehen, die sich zwanghaft in Billigtrachten vom Discounter, die nicht mal den Namen Tracht verdient haben, zwängen und stolz zum Wasen pilgern.“

Sonja Müller hält dagegen: „Seit sich die Tracht auch bei unserem Volksfest durchgesetzt hat, kommen viel mehr Menschen und fühlen sich als ein Teil des großen Ganzen. Der Wasenbesuch wird damit zu einem echten Ausstieg aus dem Alltag. Warum lässt man uns nicht den Spaß, das zu tragen, was wir wollen, und erklärt uns zu bayerischen Nachahmer?“ Peter Dobner hat folgenden Kommentar gepostet: „Regt sich etwa jemand darüber auf, dass vor vielleicht 50 Jahren Kinder Lederhosen und ein buntes Kleidchen getragen haben? Wie weltoffen ist denn das ? Meine Oma (sie ist eine Deutsche) hat übrigens Kopftuch getragen. Dürfte sie heute wohl auch nicht mehr.“

Das Stuttgart-Album, das Geschichtsprojekt auf Facebook im Internet, in den Stuttgarter Nachrichten und in Buchform, steht auf der Shortlist des Virenschleuderpreises, der für „ansteckendes Marketing“ an diesem Freitagabend auf der Frankfurter Buchmesse verliehen wird.

In der Nominierung heißt es: „Das auf drei mediale Kanäle angelegte Stuttgart-Album ist ein dynamisches, kollektives Geschichtsprojekt ,von unten‘. Gemeinsam Erinnertes stiftet Identität und macht Lust, sich mit der urbanen Umwelt vor der Haustür auseinanderzusetzen. In einer Stadt, die nicht zuletzt durch die Konflikte um Stuttgart 21 geprägt war, wird eine neutrale Plattform, die Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit städtebaulichen Veränderungen bietet, dankbar angenommen.“ Bei einer Feier in Frankfurt wird die Jury heute die Sieger bekanntgeben.

Auf der Frankfurter Buchmesse stellt der Silberburg-Verlag den Fortsetzungsband vor, der unter dem Titel „Stuttgart-Album Vol. 2“ mit Texten von StN-Redakteur Uwe Bogen und gestaltet von dem Stuttgarter Designer Manuel Kloker in diesen Tagen erscheint.

Diskutieren Sie mit auf unserer Internetseite: www.facebook.com/Album.Stuttgart. Schicken Sie historische Fotos für das Geschichtsprojekt per E-Mail an: info@stuttgart-album.de.