Der Schillerplatz war einmal ein großer Parkplatz Foto: Mack

Vorfahrt den Autos! Auf Plätzen, die heute Fußgängern vorbehalten sind, durften sie überall parken. „Autogerecht“ war die Devise der 1960er. Asphaltschneisen zerteilten die Stadt. Nach dem Krieg, sagen Kritiker, sei Stuttgart noch einmal zerstört worden.

Vorfahrt den Autos! Auf Plätzen, die heute Fußgängern vorbehalten sind, durften sie überall parken. „Autogerecht“ war die Devise der 1960er. Asphaltschneisen zerteilten die Stadt. Nach dem Krieg, sagen Kritiker, sei Stuttgart noch einmal zerstört worden.

Stuttgart - Was in den Jahren des Wirtschaftswunders in der „Stadt der Buddelbrooks“ geschah, in der Maulwurf-Metropole Stuttgart, in der überall heftig gebuddelt und gebaut wurde, bringt Uschi Lehmann auf der Facebook-Seite unseres Geschichtsprojekts Stuttgart-Album auf folgende Formel: „Gut für Autos, schlecht für Menschen“. Wie mit einem Rasierschnitt hat man Stadtviertel getrennt und dazwischen vierspurige Schnellstraßen gelegt.

Von Feinstaub spricht damals kein Mensch. In den 1960ern gelingt Autos einfach alles. Überall haben sie freie Fahrt, gerade in der Autostadt Stuttgart, die ihren nun rasant wachsenden Wohlstand vor allem zwei Automobilbauern verdankt. Wer „beim Daimler“ schafft, hat es zu etwas gebracht. Ein Mercedes wird nicht einfach nur verkauft, er wird zugeteilt. Wer sich ein Fahrzeug mit Stern kaufen kann, muss warten. In Zuffenhausen beschleunigt die Firma Porsche, die 1950 mit der Serienfertigung begonnen hat, ihre Umsätze mit atemberaubendem Tempo. 1963 wird bei der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt der erste Porsche 911 mit luftgekühltem Boxermotor präsentiert.

Autogerecht – das Wort dieses Jahrzehnts. Die Motorisierungswelle überflutet den Kessel. 1960 sind bereits 107 000 Kraftfahrzeuge in Stuttgart registriert, die sich zur Hauptverkehrszeit nur noch im Schritttempo bewegen. Im täglichen Stau wird wütend gehupt – und gleichzeitig der Ruf nach der „autogerechten Stadt“ immer lauter. Der Gemeinderat fährt im Tempo der neuen Zeit mit und kennt keine Bremse mehr. Selbst historische Bauten werden abgerissen, damit Autos auf neu betonierten Trassen schneller durchkommen.

Der Charlottenplatz wird gleich mehrfach untertunnelt. Alle Hindernisse schafft man aus dem Weg, damit sich zwei Bundesstraßen – die B 27 von Nord nach Süd und die B 14 von Ost nach West – ausbreiten können. Die sogenannte Kulturmeile zwischen Theater und Gerichtsviertel wird von einer lärmenden Stadtautobahn auseinandergerissen. Und schon gibt es Studenten, die deshalb Stuttgart in „Kaputtgart“ umtaufen. Doch scharfe Kritik kommt nicht nur aus den Hörsälen, in denen eine Protestgeneration heranwächst.

Paul Bonatz, der Erbauer des Hauptbahnhofs, wirft den Stadtplanern vor, sich nur um eine Frage zu kümmern: „Wie bringe ich die meisten Autos durch?“ Sogar vor dem altehrwürdigen Palais des Schlossplatzes macht die große PS-Koalition des Gemeinderats nicht halt. Nach hitzigem Streit, der an Stuttgart 21 erinnert, wird 1964 der bis heute oft kritisierte Beschluss gefasst, das Palais abzureißen und auch den Schlossplatz zu untertunneln. Der 44,2 Millionen D-Mark teure Planiedurchbruch ist eines der größten Straßenbauprojekte im Nachkriegs-Stuttgart.

Auf unserer Facebook-Seite schreibt Christian Brachtel dazu: „Man baute Autobahnen, wo keine hingehören, man zerschnitt das Stadtbild und opferte alles dem Verkehr, wunderte sich aber zugleich, warum keiner mehr den öffentlichen Nahverkehr nutzen wollte und warum die Stadt immer scheußlicher wurde.“ Dümmer seien die Menschen damals nicht gewesen, meint Michael Haußmann, doch der Zeitgeist sei ein ganz anderer gewesen. „Erst 1972 wurden ,Die Grenzen des Wachstums‘ veröffentlicht“, fährt er fort und fragt: „Bin mal gespannt, wie man unsere Planungen später mal einschätzt.“

Uwe Kienle sieht einen kapitalen Fehler der früheren Stadtplaner: Seiner Meinung nach hätte man die Autos unter die Erde legen und dafür die Straßenbahn, heute die Stadtbahn, oben fahren lassen sollen: „Die Stadt wäre nicht durch die kaum zu überquerenden und hässlichen Stadtautobähnchen zerschnitten, man könnte heute auch die Stadtbahn ohne die unzumutbaren unterirdischen Haltestellen nutzen.“ Hans Dampf wirft „aus heutiger Sicht“ den Verantwortlichen eine „klare Stadtverschandelung“ vor – aber es gelte auch in diesem Bereich: „Hinterher ist man immer schlauer.“

Das Stuttgart-Album ist als Buch im Silberburg-Verlag erschienen. Schicken Sie historische Fotos an: info@stuttgart-album.de. Diskutieren Sie mit unter: www.facebook.com/Album.Stuttgart.de