Heiner Geißler Foto: dpa

Geißler im Interview über Bürgerrechte, Demonstranten und Schwarz-Grün.

Stuttgart - Sechs Wochen hat Geißler mit Befürwortern und Gegnern über Stuttgart 21 diskutiert, ehe er in seinem Schlichterspruch das Bahnprojekt - mit Nachbesserungen - befürwortet hat. Mit Kritik aus beiden Lagern kann er leben, nicht aber mit dem Vorwurf, er habe sich Ministerpräsident Mappus gebeugt: "Das verletzt mich", sagt er im Interview mit unserer Zeitung. 

Herr Geißler, worüber würden Sie sich nach diesem Jahr am meisten freuen: über die Bahncard 100, einen Ehrenbaum im Stuttgarter Schlossgarten oder über eine schwarz-grüne Koalition im Landtag?

Natürlich über den Baum.

Drei Wochen nach dem Schlichterspruch hagelt es Kritik von beiden Seiten: die S-21-Gegner behaupten, Sie hätten sich Mappus und Grube gebeugt - die Befürworter unken, Sie hätten S21plus so teuer gemacht, dass es kaum umsetzbar sei. Haben Sie alles richtig gemacht - oder doch zu viel offen gelassen?

Die Behauptung, ich hätte mich Mappus gebeugt, verletzt mich. Dummheit kann weh tun. Ich habe das Optimale als Schlichtungsergebnis formuliert: Es ging nie darum, einen neuen Bahnhof zu erfinden, sondern darum, einen besseren zu bauen. Stuttgart21plus ist nicht mehr identisch mit Stuttgart 21.

Kann der Stresstest noch eine Kann- oder Sollbruchstelle werden?

Nein. Der Stresstest ist in Vorbereitung. Wichtig ist nur, dass das Aktionsbündnis und die Grünen an den Modalitäten beteiligt und informiert werden. Das ist mir zugesagt worden.

Werden Sie sich einschalten, wenn Ihr Schlichterspruch im Landtagswahlkampf grundsätzlich oder zu weit interpretiert wird?

Wenn man ihn inhaltlich veränderte, würde ich mich schon melden. Dass vor der Landtagswahl nun alle denkbaren Interpretationen herumgereicht werden, ist Meinungs- und Pressefreiheit. Aber die Substanz darf nicht verändert werden. Ich schaue zu, welchen Lauf die Dinge nehmen. Ich schreibe im Moment ein Buch über die demokratische Entwicklung - über die Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch eine Bürgerbeteiligungsdemokratie. Dafür kann das, was wir in Stuttgart getan haben, durchaus ein Modell sein.

Kommt das Buch vor der Wahl am 27. März?

Vielleicht im Februar, sofern ich das schaffe. Das ist unabhängig von der Landtagswahl. Diese Wahl stört gewaltig. Wenn es sie nicht geben würde, hätten wir nicht diese unterschiedlichen Interpretationen. Die Wahlkämpfer haben sich der Schlichtung bemächtigt. Jenseits der überwiegenden Zustimmung behaupten andere, ich hätte den Bahnhof teuer gemacht. Das ficht mich als Schlichter nicht an, weil ich die Pflicht habe, etwas Vernünftiges und Verantwortbares vorzuschlagen. Der mir sehr sympathische Entwurf K21 kam nicht in Frage, weil er nicht geplant, die Finanzierung nicht gesichert ist und die Realisierung deshalb in weite Ferne rückt. Aber S21 konnte im alten Entwurf auch nicht bleiben, sondern musste verbessert werden - auf Grundlage der Kritik des Aktionsbündnisses und der Grünen. Die Befürworter wiederum müssen zur Kenntnis nehmen, was Bahn-Chef Rüdiger Grube eingeräumt hat: dass S21 nicht der am besten geplante Bahnhof aller Zeiten ist. Das zu verbessern, dazu wollte ich einen wichtigen Beitrag leisten.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Stefan Mappus und Winfried Kretschmann heute?

So wie vor der Schlichtung auch.

"Mich hat das Gleisbett nie gestört"

Hat ein CDU-ler oder Grüner sie gebeten,sich im Landtagswahlkampf bereitzuhalten, gar aufzutreten?

Nein, das mache ich auch nicht. Ich nehme zwei Termine wahr, die ich vor der Schlichtung zugesagt habe.

Stuttgart hat sich durch die Konfrontation und die Schlichtung sehr verändert - wie wirkten die Bürger dort auf Sie?

Ich bin selbst halber Stuttgarter, habe hier meinen Beruf begonnen, zwei meiner Kinder sind hier geboren. Mir hat die Stadt immer gefallen, und mich hat auch das Gleisbett nie gestört. Wenn das jetzt neu gestaltet wird, kann die Stadt noch schöner werden. Die Menschen dort sind das Gegenteil von dem, was den Schwaben üblicherweise nachgesagt wird. Die Stuttgarter haben sich als selbstständig denkende Menschen gezeigt - auf beiden Seiten. Sie haben Stellung bezogen zu einem Projekt, welches die Stadt verändert. Da sind bis zu 100000 Menschen auf die Straße gegangen. Wer hat den Schwaben so etwas vorher zugetraut?

Was sagen Sie jenen, die nach der Schlichtung nun fordern, die Demonstrationen zu beenden?

Das Demonstrationsrecht kann keine Landesregierung, keine Kanzlerin und keine Schlichtung aufheben. Es ist ein heiliges Grundrecht, weil es das einzige Grundrecht ist, mit denen die Menschen zwischen den Wahlen zum Ausdruck bringen können, ob sie mit der Politik einverstanden sind oder nicht. Dieses Recht ist unantastbar. Im Übrigen sollte der Verfassungsschutz die Demonstranten nicht immer wieder als Terroristen diffamieren und sie kriminalisieren.

Gibt es Politikerkollegen, die auf Ihre Schlichtungserfahrung zurückgreifen wollen oder überwiegt dort die Sorge, dass Sie Politik anstrengender gemacht haben, weil die Bürger mehr mitreden wollen?

Auf den Vorschlag einer Bürgerbeteiligungsdemokratie nach Stuttgarter Modell habe ich von der offiziellen Politik keine Rückmeldung bekommen. Das lege ich aber so aus, dass die Politiker darüber nachdenken. Wissenschaftler und Medien greifen das Thema auf, und auch die Jugendorganisationen der Parteien werden darüber nachdenken.

War es klug, dass sich Kanzlerin Merkel so eindeutig positioniert hat, die Landtagswahl zur Abstimmung über Stuttgart21 werden zu lassen?

Ich will das nicht bewerten, aber zumindest hat sie es nicht wiederholt.

Merkel hat zudem das FDP-Problem, welches die Koalition enorm schwächt. Muss sich die CDU nicht anderen Parteien öffnen?

Ich war als Generalsekretär ein großer Anhänger der Koalition mit dem Liberalismus; heute habe ich ein anderes Verhältnis zur FDP. Ich vermisse bei ihr zweierlei. Erstens die Bürgerrechte: Die Parteiführung lässt ihre Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Regen stehen, die beispielsweise bei der Vorratsdatenspeicherung als einzige für die Bürgerrechte kämpft. Zweitens verhindert die FDP zum Beispiel eine internationale Finanztransaktionssteuer, obwohl die unverzichtbar ist. Diese einseitige Festlegung auf die Interessen des Kapitals führt dazu, dass die Menschen diese Politik nicht akzeptieren.

Ist Schwarz-Grün für Sie attraktiver?

Ich bin nicht für Schwarz-Grün immer und überall. Aber es gibt keinen Grund, warum wir mit den Grünen weniger gemeinsame Inhalte feststellen können als mit der SPD. Diese Blockade aller anderen Koalitionsoptionen außer der FDP ist für den Regierungsanspruch der CDU hinderlich.