"Vor einem Herbst der Entscheidungen": Die Bundeskanzlerin legt sich bei S21 klar fest.

Berlin - Die Bundeskanzlerin spricht von einem "Herbst der Entscheidungen" und legt sich bei Stuttgart 21 klar fest. Das Bahnprojekt muss sein - und die Landtagswahl im März soll zu einer Volksabstimmung darüber werden.

Neulich im Bundestag: Lange plätschert auch diese Rede der Kanzlerin vor sich hin. Angela Merkel spricht nüchtern und routiniert. Es geht um den Haushalt. Wacker arbeitet sie sich an den aktuellen Themen ab: Hartz-IV-Reform, Gesundheitspolitik, Umbau der Bundeswehr. Gelegentlich klatschen die Abgeordneten der Koalition Beifall. Eher pflichtschuldig.

Landtagswahl als Schicksalswahl für Merkel

Dann aber kommt Leben in die Reihen der Parlamentarier. Weil Leben in die Rede der Kanzlerin kommt. Es geht um Stuttgart 21. Schon die Tatsache, dass Merkel das Thema überhaupt anschneidet, ist bemerkenswert. Es hat mit der Lage des Bundesetats nicht viel zu tun. Merkel könnte das Problem übergehen.

Und genau das tut sie nicht. Sie attackiert. Die Grünen agierten "verlogen", die SPD eiere herum. "Die SPD war jahrelang für Stuttgart 21. Jetzt, wo man ein bisschen dafür kämpfen muss, fangen Sie an, dagegen zu sein. Diese Art von Standhaftigkeit ist genau das, was Deutschland nicht nach vorne bringt." Großer Beifall im Regierungslager. Alle Entscheidungen seien rechtmäßig getroffen, also brauche man keine Volksabstimmung. Merkel wörtlich: "Die Landtagswahl im nächsten Jahr, die wird genau die Befragung der Bürger über die Zukunft Baden-Württembergs, über Stuttgart 21 und viele andere Projekte sein."

Donnerwetter. So hat man Angela Merkel selten erlebt. Es ist absolut nicht ihre Art, sich bei heiklen Konflikten so eindeutig festzulegen. So eindeutig übrigens, dass in der Stuttgarter Staatskanzlei der eine oder andere mächtig zusammengezuckt sein dürfte. Die Landtagswahl im März 2011 zur Volksabstimmung über Stuttgart 21 zu machen ist ja gerade das, was die Südwest-CDU unbedingt vermeiden will. Mancher meint deshalb, die Kanzlerin sei im Eifer des rhetorischen Gefechtes ein bisschen über das Ziel hinausgeschossen. "Die baden-württembergische Wahl kann zur Schicksalswahl von Angela Merkel werden", sagt der Politikwissenschaftler Gerd Langguth.

Grünen: "Das können Sie haben!"

Aber Angela Merkel weiß genau, was sie tut. Und sie weiß, dass ihre Strategie hoch riskant ist. Schwarz-Gelb hat das erste Regierungsjahr so verpatzt, dass Angela Merkel - entgegen ihrer Gewohnheit - nur noch einen Weg sieht: Profil durch Entschlossenheit zu zeigen. Merkel spricht von einem "Herbst der Entscheidungen". Nur ist keines der abzuarbeitenden Themen geeignet, Sympathiepunkte zu sammeln. Zusatzprämien für Patienten, dürftige Zuwächse bei Hartz IV, drohende Schließungen von Bundeswehr-Standorten - immer ist irgendwer verärgert. Wenn das schon so ist, kalkuliert Merkel, dann muss eben Handlungsstärke gezeigt werden. Wenn die Regierung schon nicht beliebt ist, dann soll sie wenigstens aufgrund von mutigen Entscheidungen respektiert werden.

Da passt Stuttgart 21 aus mehreren Gründen ins Konzept. Erstens: Man kann bei dem Thema so herrlich gegen die Grünen mobilisieren, sie als Blockierer von Entscheidungen, als Neinsager und politische Verhinderer anprangern. Genau so ein Thema hat Merkel gesucht, denn sie muss den Höhenflug der Grünen stoppen.

Zweitens: Stuttgart 21 könnte ihr ein Symbol liefern, das einige lose Enden ihrer Politik zusammenbindet. Sie will das Großprojekt als zukunftsweisend anpreisen, damit plötzlich ihre Politik als zusammenhängend erscheint: längere AKW-Laufzeiten, um die Brücke zum Einsatz der erneuerbaren Energien zu schlagen, mehr Geld für Forschung und Technik, bessere Infrastruktur etwa bei Stromleitungen. Deutschland zukunftstauglich zu machen - das soll der Rahmen sein, ein neuer Überbau für die schwarz-gelbe Politik. Drittens aber ist die Kanzlerin bei dem Thema jenseits von strategischen Überlegungen persönlich engagiert: Sie ist Naturwissenschaftlerin, das heißt ja wohl: aufgeschlossen für neue Techniken und misstrauisch gegenüber den Bedenkenträgern. Rein emotional steht sie den Ingenieuren näher als den Baumschützern.

Grünen: "Das können Sie haben!"

Die Bundeskanzlerin weiß sehr wohl, dass ihr in dieser Frage niemand einen Erfolg garantieren kann. Es ist ja kein Zufall, dass auch die Grünen über ihre Etatrede gejubelt haben. "Eine leichtfertige Wette" nennt Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin Merkels Kampfansage. "Das können Sie haben!", schmetterte am Mittwoch Renate Künast in der Aktuellen Stunde des Bundestags der Union entgegen.

Tatsächlich gibt es im Kanzleramt Befürchtungen, was die März-Wahlen angeht. Längst ahnt man in Berlin, dass die einst als uneinnehmbar angesehene Bastion fallen könnte. Nachdem Merkel so glasklar Position bezogen hat, käme sie selbst im Falle einer Wahlschlappe im März unter schweren Druck. Zumal die Strategen im Umfeld Merkels davon ausgehen, dass auch in Nordrhein-Westfalen im März Neuwahlen stattfinden werden.

Dann aber fände de facto im Frühjahr eine "kleine Bundestagswahl" statt. So wie die Dinge liegen, könnten die Wähler auch der Bundesregierung einen Denkzettel ausstellen. Dann würde die politische Situation an das Ende der Ära Schröder erinnern.