Allenfalls um wenige Millimeter haben sich Befürworter und Gegner aufeinander zubewegt.

Stuttgart - Nur um Millimeter haben sich Gegner und Befürworter von Stuttgart21 bei der ersten Schlichtungsrunde am Freitag aufeinander zu bewegt. Die wichtigste Frage des Tages musste vertagt werden. Trotzdem werteten beide Seiten den verbalen Schlagabtausch als Erfolg.

Heiner Geißler scheint dem Braten nicht recht zu trauen. Also nimmt er die Anwesenden nochmals ins Gebet: "Wir wollen hier keine Predigten hören, keine Glaubensbekenntnisse und keine historischen Seminare", ermahnt der 80-jährige frühere CDU-Generalsekretär am Freitagvormittag Gegner und Befürworter von Stuttgart21.

Auch Ministerpräsident Mappus wird belehrt

"Das versteht außer Fachleuten kein Mensch, was verstehen Sie denn unter..." wird im Rathaus am Runden Tisch zu Geißlers Standardsatz. Immer wieder zwingt er die Referenten zu verständlichen, begreifbaren Aussagen. Als er entdeckt, dass es eine Studie beim Land gibt, die alle 23 Diskussionsteilnehmer kennen, bloß er nicht, wird Geißler richtig grantig: "Ich muss darauf bestehen, alle Papiere zu haben. Sonst muss ich die Schlichtung abbrechen."

Auch Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) wird belehrt. Der Schlichter dankt zwar artig für die bisher einmalige Möglichkeit des Austauschs. Es bleibe aber "Aufgabe der Politik, das Projekt in der jeweiligen Phase zu erläutern", spricht Geißler die Versäumnisse an. Schon bei der Vorstellung der Hautptakteure hatte er Mappus glatt übersehen, was dieser aber locker pariert: "Ich bin als Experte hier", scherzt Mappus. Ansonsten schweigt er, und den Nachmittag schwänzt er komplett. So fällt in der Debatte kein Ton des Regierungschefs. Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU) ersetzt Mappus mit ihrer Angriffslust und Schlagfertigkeit in jeder Hinsicht.

Die ersten Schlichtungsgespräche beginnen Punkt 10 Uhr im Mittleren Sitzungssaal. Erstmals sollen und wollen die Projektpartner von Bahn, Land, Stadt, Region und Flughafen mit den Gegnern von Grünen, SÖS, Umweltverbänden und Bürgerinitiativen sich über alle Argumente für und wider Stuttgart21 offen austauschen.

"Die Bevölkerung soll in der Lage sein, jederzeit selbst zu denken - dazu braucht sie Informationen", fordert Geißler, und bittet auch diejenigen Zuschauer, die bereits eine Meinung zu Stuttgart21 haben, sich gegebenenfalls "zu öffnen für neue Argumente". Dazu sind fünf Kameras im Saal aufgebaut, die welche Schlichtung im Internet und im Fernsehen sowie auf einer Leinwand im Rathaus live übertragen.

Auf der Themenliste am ersten Tag steht die "Strategische Bedeutung und verkehrliche Leistungsfähigkeit des Bahnknotens Stuttgart21". Kurz gesagt: Was kann die neue 4,1 Milliarden Euro teure Infrastruktur mit dem Tiefbahnhof, was die alte nicht kann? Das erste Wort dazu hat die Deutsche Bahn AG als Bauherrin. Die Aufgabe des 16-gleisigen Kopfbahnhofs und der Neubau einer achtgleisigen Durchgangsstation ermögliche "ein Drittel mehr Leistungsfähigkeit mit 200 Zügen mehr am Tag", führt Bahn-Vorstand Volker Kefer am Pult aus. Stuttgart21 und die zeitgleich zu realisierende ICE-Trasse nach Ulm seien für den Schienenfernverkehr in Deutschland und innerhalb Europas "ein essenzieller Lückenschluss", betont Kefer.

"Das war ein guter, erfolgreicher Auftakt

Die knappe halbe Stunde, um die sich die Zugfahrt Stuttgart-Ulm künftig verkürze, komme nicht nur den Reisenden zugute - sie mache den Bahnverkehr insgesamt attraktiver, lasse mehr Menschen vom Flugzeug oder Auto auf den Zug umsteigen und sorge für ein jährliches Plus von zwei Millionen Fahrgästen im Fern- und zehn Millionen im Regionalverkehr. Was Kefer sagt, ist strukturiert und nachvollziehbar. Es dauert ganze 21 Minuten, ehe der Tübinger OB Boris Palmer den ersten spöttischen Zwischenruf zu den derzeitigen Problemen im S-Bahn-Verkehr absetzt.

Kefer lässt sich nicht irritieren. Er verteidigt die "langen Projektlaufzeiten in einer Demokratie". Wenn Stuttgart21 wie geplant Ende 2019 in Betrieb gehen sollte, wären von der ersten Idee bis zum ersten Zug bald 40 Jahre vergangen, was nicht ganz unüblich sei. Kefer skizziert auch die von der Bahn selbst ermittelten "Konfliktstellen" des Projekts: Auf einer Zeichnung sind sie in mildem Grün statt hartem Rot gehalten. Den Gegnern verspricht er: "Wir sind zu größerer Offenheit und Kooperation bereit."

Um 11.09 Uhr beginnt Boris Palmer mit seiner Eröffnungsrede - und bläst sofort zur Attacke: "Wir sehen in vielen, vielen Punkten Widersprüche", sagt er zu Kefer. Palmer wird schnell grundsätzlich: Das Milliardenprojekt sei "kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt", kritisiert er, denn "Stuttgart21 schwächt den Schienenverkehr in Deutschland". Da sei kein Nutzen für den Güterverkehr, praktisch keine Fahrzeitverkürzung, dagegen stünden gigantische Kosten. Dabei werde Geld an wirklichen Engstellen im Schienennetz wie im Rheintal gebraucht. Palmer gibt sich nicht erklärend und weichgespült wie Kefer. Palmer greift an. "Ihre Mondzahlen für den Bau des Bahnhofs werden wir in einer anderen Sitzung auseinandernehmen", droht er.

"Das war ein guter, erfolgreicher Auftakt"

Wer einen ICE bestelle, aber eine Dampflok geliefert bekomme, "darf die Bestellung rückgängig machen", plädiert Palmer für ein schnelles Ende von Stuttgart21. Darum aber geht es im Rathaus gar nicht. "Was beschlossen ist, bleibt rechtmäßig und legal", hatte Geißler eingangs klargestellt. Das Totenglöcklein, das die Gegner gern anstoßen würden, kann hier nicht geläutet werden.

Palmer, Gangolf Stocker oder der frühere Bahnhofs-Vorsteher Egon Hopfenzitz bringen Kefer & Co. in Bedrängnis. "Wenn Sie in Stuttgart beim Pendelverkehr bleiben wollen, können Sie auch beim Kopfbahnhof bleiben", sagt Hopfenzitz. Für die Gegner ist das Konzept der Bahn mit mehr durchgehenden Zuglinien in der Region eine zwangsweise Folge, weil der Tiefbahnhof zu wenig Kapazität habe. "Der neue Bahnhof ist schlechter als der alte, das ist der zentrale Konflikt", sagt Palmer mit Blick auf die in ein Gutachten von Ullrich Martin. Der Professor aus Stuttgart räumt ein, die Kapazität des Tiefbahnhofs isoliert betrachtet zu haben. Die Gegner glauben all diesen Zahlen nicht. Sie fordern einen "Stresstest", der die tatsächliche Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs nachweisen solle.

Die Debatte kommt bei den kritischen Fragen der Gegner nach den künftigen Fahrplänen und der Leistungsfähigkeit des Neubaus ins Stocken, dreht sich eine Stunde im Kreis und wird schließlich auf den kommenden Freitag vertagt. Wie angekündigt macht Geißler um 17 Uhr Schluss.

"Das war ein guter, erfolgreicher Auftakt", sagt Kefer am Abend vor der Presse. Viele Fragen der Gegenseite seien "berechtigt", und manchmal sei die Beantwortung schwierig. "Aber es macht mir Freude, argumentativ die Klingen zu kreuzen", sagt der Bahn-Vorstand. Auch Brigitte Dahlbender vom BUND zieht ein positives Fazit: "Stuttgart21 ist ein Stück weit erschüttert, wir fühlen uns in unserer Kritik bestätigt", sagt sie. Von solchen Werturteilen sieht Geißler ab. Er lobt die Teilnehmer stattdessen, dass sie nicht versucht hätten, in der Sachschlichtung durch persönliche Attacken zu punkten. "Aber der Zuschauer punktet, und er bildet sich ein Urteil", betont Geißler.